Sexuelle Gewalt und „geistige“ Behinderung: Unmögliche Täterschaft in Be My Baby

Reflexion

Die Unmöglichkeit des Täter-seins einer Figur mit „geistiger“ Behinderung

Viktoria Geldner

Ein Gedankenspiel: ein Mann ohne „geistige“ Behinderung macht sexuelle Avancen gegenüber einer Frau mit Down-Syndrom. Sie weicht zurück und sagt „Hör auf“, „Ich will das nicht“. Er widersetzt sich dem, legt sich auf sie, küsst sie. Es kommt zum Sex. Wie ist diese Schilderung zu bewerten? Im Film Be My Baby (DE 2014; Regie: Christina Adler) vollzieht sich das Geschilderte mit vertauschten Rollen. Eine Frau mit Down-Syndrom nähert sich einem Mann ohne „geistige“ Behinderung auf jene Weise an. Und plötzlich ist es keine Vergewaltigung, sondern eine Liebesgeschichte.

Stereotype Vorstellungen

Das Thema Männer als Opfer ist schwierig. Noch schwieriger ist es, wenn es sich um sexuelle Gewalt handelt, die von Frauen verübt wurde. Oft wird auf die vermeintlich omnipräsente Libido des Heteromannes oder dessen angenommene körperliche Überlegenheit gepocht, dabei gibt es mittlerweile viele fundierte Studien über Männer, die Opfer sexueller Gewalt wurden, wobei die Täterinnen Frauen waren.

Komplizierter wird es noch, wenn den Themen Sexualität oder Sexuelle Gewalt der Identitätsmarker Behinderung hinzugefügt wird. Unter diesem Überbegriff sind beide Themenfelder untrennbar miteinander verbunden: Menschen mit („geistiger“) Behinderung werden stereotyp oft als kindlich-asexuell typisiert, was im Film Sanctuary (IRE 2016; Regie: Lenn Collin) anschaulich von einer Figur ohne Behinderung zusammengefasst wird. Die Rezeptionistin erfährt, dass zwei Figuren (er mit Down-Syndrom, sie mit Epilepsie) ein Hotelzimmer gemietet haben, um dort ungestört Sex zu haben, und kommentiert: „God, you never think of them like that, do you? Having urges. They all seem so innocent and full of hugs” (35:50–35:58).

In Sanctuary wird zudem verdeutlicht, dass Menschen mit „geistiger“ Behinderung ‚Sexualität‘ anscheinend nur erfahren können, wenn diese an ihnen „verübt“ wird, d.h., wenn sie Opfer sexueller Gewalt werden (mehrfach verdeutlicht an Charakter Sophie). In der Wahrnehmung der breiten Masse kann der einzige Schnittpunkt eines Menschen mit „geistiger“ Behinderung und ‚Sexualität‘ oft nur aus Gewalt bestehen. Warum passiert in Be My Baby also das Gegenteil?

Be My Baby

Die Geschichte zwischen Nicole, der Hauptperson mit Down-Syndrom, und Nick, dem Nachbarsjungen, ist als Liebesgeschichte aufzufassen, wie schon die an Märchen erinnernde Ähnlichkeit ihrer Namen belegt (sie sind ‚füreinander geschaffen‘). Der Film beginnt mit einer traumartig anmutenden Sequenz, hinterlegt von ebenso märchenhaft-verzaubernder Musik, in welcher sich Nicole und Nick durch Stuttgarter Weinberge jagen und deutlich wird, dass Nicole unsterblich in Nick verliebt ist. In einem Linienbus begegnet Nicole dann einer jungen Mutter und deren Baby, woraufhin sich ihr eigener Traum der Mutterschaft entfaltet. Nachdem sie ein Aufklärungsheft gelesen und sich mit Kleidung und Schminke ihrer Mutter zurechtgemacht hat, besucht Nicole Nick in seinem Zimmer.

Laut der Produktbeschreibung (Amazon) ist Nicole 18 und Nick 15. Nick liegt in Boxershorts auf dem Bett und wendet sich von Nicole ab. Sie krabbelt auf ihn und beginnt, ihn zu streicheln, worauf er mit einem Kopfschütteln und einem „Ich schau gerade fern“ reagiert. Nicole knöpft ihre Bluse auf, sodass ihr Bauch entblößt ist und sagt: „Hup mal.“ Nick erwidert: „Nein.“ Nicole: „Du musst aber.“ Nick entgegnet: „Nein, ich mag nicht.“ Nicole wiederholt: „Du musst aber.“ Als sich Nick zögerlich auf sein und Nicoles Kindheitsspiel, dass er ein Auto ist, einlässt und Nicole meint, der Porsche (Nick) wäre schmutzig und müsse in die Waschstraße, wiederholt er wieder: „Nein“. Als sie insistiert, wiederholt er ein weiteres Mal: „Nein“. Nicole beginnt ihn zu kitzeln und Nick sagt: „Hör auf damit. Ich mag das nicht“. Im Anschluss fängt Nicole an, Nicks Hals zu küssen. Er gibt schließlich nach und erwidert ihren Kuss, untermalt von der märchenartigen Traummusik der Anfangssequenz (25:03–28:16).  

Das Framing der Szene (die Liebesgeschichte des ‚füreinander bestimmten‘ Paars, die Musik, die Lichteffekte, …) stellt unmissverständlich klar, dass es sich um eine romantische Szene handeln soll: das bedeutungsgeladene „Erste Mal“. Mit einem sensiblen Ansatz kommt eine empfängliche Zuschauerschaft allerdings nicht umhin, die Szene anders zu lesen: während der knapp drei Minuten gibt Nick fünf unterschiedliche Äußerungen von sich, die alle belegen, dass er nicht will („Nein“, „Hör auf damit“, „Ich mag das nicht“). Er zeigt ebenfalls nonverbale Ablehnung, indem er sich von Nicole abwendet. Allein diese nonverbale Ablehnung ist seit der Verschärfung des Sexualstrafrechts 2016 („Nein heißt Nein“) ausreichend, um zu signalisieren, dass Nicoles Handlungen gegen Nicks Willen geschehen. Unabhängig davon drängt sich Nicole Nick auf, übergeht seine Einwände und sagt zwei Mal „Du musst aber“.

Romantisierte Gewalt

Dass Gewalt in heterosexuellen Liebesbeziehungen und deren kulturellen Darstellungen romantisiert wird, ist weder etwas Neues noch auf Filme über („geistige“) Behinderung beschränkt (der YouTube-Kanal Pop Culture Detective hat hervorragende Videoessays hierzu produziert). In heterosexuellen Darstellungen vermeintlicher Romantik ist grundsätzlich der männliche Charakter der Täter, charakterisiert als ‚stark‘, und der weibliche Charakter das Opfer, charakterisiert als ‚schwach‘. Die Umkehrung des Mannes als Opfer und der Frau als Täterin ist in einer patriarchalischen Gesellschaft, wie anfangs erwähnt, ohnehin schwierig, was einerseits erklärt, weshalb es in Be My Baby so einfach ist, die Szene zwischen Nicole und Nick als Romantik und nicht als beinahe-Vergewaltigung zu betrachten. Der tatsächliche Grund für diese Dynamik liegt aber noch einmal tiefer.

Die Unmöglichkeit des Täter-Seins

Der andere Grund, weshalb es so einfach ist, die Szene nicht als Straftat zu betrachten, liegt darin, dass Nicole eine „geistige“ Behinderung (Down-Syndrom) hat. Dass ein Mensch ohne („geistige“) Behinderung Opfer eines Menschen mit „geistiger“ Behinderung wird, erscheint oft unmöglich. Dies wird unter anderem viel zu deutlich in der Podcast-Folge 228: Bobby Lee von The Fighter and the Kid (Link 1), in welcher Bobby Lee erzählt, dass er als Kind von einem Mann mit Down-Syndrom missbraucht wurde, woraufhin sich die Podcast-Hosts kaum halten können vor Lachen. Die Kommentare unter einem Video, das nur diesen Ausschnitt des dreistündigen Interviews zeigt, belegen beinahe ausnahmslos, dass die geschilderte Tat als lustig aufgefasst wird (Link 2). Dies liegt daran, dass Menschen mit „geistiger“ Behinderung oft die default-Einstellungen lieb und unschuldig zugeschrieben werden, weshalb diese als Täter von Missbrauch in diesem Framing absurd und grotesk erscheinen, was für Gelächter sorgt.

In Be My Baby verfügt Nicole gleich über zwei Identitätsmarker, die sie in den Augen der breiten Öffentlichkeit als Täterin quasi unmöglich machen: sie ist eine Frau und sie hat eine „geistige“ Behinderung. Dabei wiederholt sich das Handeln von Nicole, das als Sexualstraftat betrachtet werden kann, im Film: wenn Nicole und Hermann, ein anderer Charakter mit Down-Syndrom, ein gemeinsames Bad nehmen, stellt Hermann eine ausdrückliche Liste mit Regeln auf: „Niemand darf aber den Zipfel anfassen. […] Und unter der Bluse hat keine Hand was verloren. […] Ich darf niemandem an die Brust fassen. Und auf den Po schon gar nicht.“ (0:54:39–0:55:00). Zu Filmende liest Nicole laut einen Brief von Hermann, welcher mit den Worten „Bitte sag Mutti nicht, dass du meinen Zipfel doch angefasst hast“ endet (1:39:18–1:39:23). Hermanns übertrieben verzweifeltes, beinahe gequiektes Voice-Over bewirkt, dass die Szene von der Zuschauerschaft als lustig wahrgenommen werden soll. Aber wie würde es betrachtet werden, wenn ein Mann eine Frau (mit Down-Syndrom) gegen ihren Einwand berührt hätte?

Geschützt durch den Status Quo

In Be My Baby wird Protagonistin mit Down-Syndrom Nicole als Frau dargestellt, die ihre Bedürfnisse ausleben möchte. Prinzipiell ein vielversprechender, starker Plot, um die stereotype Charakterisierung von Menschen mit „geistiger“ Behinderung als asexuell zu konterkarieren – allerdings übersieht der Film, wie leicht Nicole dabei selbst zur Täterin wird. Geschützt durch die tiefe Verankerung der Ansicht von Menschen mit Down-Syndrom als unschuldig und kindlich gut sowie der mutmaßlichen Unmöglichkeit des sexuellen Missbrauchs von Männern durch Frauen, werden hiermit eher bestehende Vorstellungen gefestigt, sowohl über Behinderung wie auch über ein schädliches Frauen-/ Männerbild. Nicole wird durch ihr Geschlecht, vor allem aber durch das Down-Syndrom, jede Täterschaft abgesprochen, weshalb die offensichtlich romantisch intendierten Szenen unangenehm anzusehen sind und verstörend grotesk wirken.

 

Pop Culture Detective. Predatory Romance in Harrison Ford Movies.

https://www.youtube.com/watch?v=wWoP8VpbpYI (19.09.23)

Pop Culture Detective. Abduction as Romance. https://www.youtube.com/watch?v=t8xL7w1POZ0&t=10s (19.09.23)

The Fighter and the Kid. Episode 228: Bobby Lee (1) https://www.youtube.com/watch?v=Vn-vyWkc6w4 ab 36:00 (19.09.23)

The Fighter and the Kid. Bobby Lee Childhood Story Time on The Fighter and The Kid (2) https://www.youtube.com/watch?v=SBaFwemRrJ4 (19.09.23)

Adler, Christina, Be My Baby. Stream; Amazon Digital Germany GmbH: good!movies, 2014.

Collin, Lenn, Sanctuary. Stream; Vimeo: Bord Scannán na hÉireann / The Irish Film Board, Broadcasting Authority of Ireland, Noncents Films, Zanzibar Films, 2016.