Toleranz als Zeichen von Herablassung?
Anna Mitgutsch schreibt in ihrem sehr lesenswerten (für mich allerdings auch zu pessimistischen) Roman Zwei Leben und ein Tag:
„Anders als wir, das ist kein neutraler Satz, das ist ein Satz des Ausschlusses, der erste, scheinbar harmlose Satz, der andere nach sich zieht und an deren Ende die Vernichtung steht. […] Gabriel tut Ihnen nichts, sagte ich, er hat noch nie jemandem etwas getan. Ich hatte das Gefühl, in einem Wespenschwarm zu sitzen, und von allen Seiten stachen sie mit ihren Prophezeiungen und Unterstellungen auf mich ein. Darin waren sie sich einig: Er störte und er mußte weg. Schließlich ermahnte eine von ihnen zur Toleranz, und ich begriff zum erstenmal, wieviel Herablassung und Hochmut in diesem Wort steckt, eine willkürlich festgelegte, befristete Amnestie für die Gejagten, die den Maßstäben der Meute nicht entsprechen […]. Warum bloß hatten sie vor einem Außenseiter, den sie immer weiter an den Rand drängten, soviel Angst? Wenn die Starken sich fürchten, ist das Leben der Schwachen nicht mehr sicher.“
(Anna Mitgutsch, Zwei Leben und ein Tag. Ein Roman. 3. Auflage, München: btb, S. 242, 243 und 244)
Susanne Hartwig