Filmkritik
Geschichten von Geschwisterliebe und Grenzgängern
Martha Ehrtmann
Die Serie „Eldorado KaDeWe“ beleuchtet den Glanz und Niedergang des Berliner Kaufhauses. Dabei geht es neben Emanzipation, Nationalsozialismus und Homosexualität auch um Behinderung.
“Kann man Liebe festhalten?“, fragt Hedi ihre Schwester Mücke. Die Antwort äußert sich in einer stürmischen, liebevollen Umarmung Mückes, die ihre große Schwester mit den Worten „Kann man“ umschlingt. Mücke, gespielt von Neele Buchholz, ist zwar ein Nebencharakter in der ARD-Serie „Eldorado KaDeWe“, kann aber trotzdem mithalten und zeigt in eindrucksvollen und bewegenden Szenen die Wichtigkeit von kleinen Gesten.
In den sechs Episoden der Serie dreht sich das Geschehen um das edle Berliner „Kaufhaus des Westens“ (kurz: KaDeWe) rund um die Geschäftsfamilie Jandorf. Tatsächliche historische Personen werden dabei mit fiktiven Charakteren in der Zeit der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts kombiniert und finden den Weg in die heimischen Wohnzimmer. Dabei steht Fritzi Jandorf im Mittelpunkt, Tochter des Geschäftsführers Adolf Jandorf und ehrgeizig daran interessiert als Frau in der Männerdomäne „Wirtschaft“ eine Karriere zu beginnen.
Die ambitionierte Fritzi würde dabei gerne den Einfluss ihres Bruders, Harry Jandorf, besitzen, welcher von den Traumata seiner Wehrdienstzeit im ersten Weltkrieg nicht ganz losgelassen wird und diese mit einem zügellosen Leben zu vergessen versucht. Jedoch ist Fritzi Jandorf, welche als historische Person nie existiert hat, nicht nur auf der Suche nach einer beruflichen Verwirklichung. Auch in Sachen Liebe will sich Fritzi ausprobieren und findet in der Frauenorganisation und Nachtclub „Eldorado“ einen Ort, wo sie zum ersten Mal die Chance hat, ihr Inneres besser zu verstehen und kennenzulernen.
Frauen über Frauen
Ihre Liebe zu Hedi Kron, einer Angestellten im KaDeWe, bereitet den Weg für eine neue Fritzi Jandorf, welche im Berlin der 1920er Jahre für Gleichberechtigung, Emanzipation und Akzeptanz kämpft. In der „Stadt der Frauen“, wie Berlin nach dem ersten Weltkrieg bezeichnet wird, leben, wohnen und arbeiten zu knapp 78% Frauen. Aus diesem Grund will das KaDeWe ein größeres Augenmerk auf die weibliche Kundschaft legen und realisiert aufsehenerregende Werbekampagnen, angetrieben von den jungen Jandorf-Geschwistern Fritzi und Harry.
Hedi Kron hingegen kann sich die aufrührerische Rebellion gegen verstaubte Konventionen und gesellschaftliche Erwartungen nicht leisten. Aufgrund ihres vom Krieg versehrten Vaters, der als Fuhrmann mit nur einem Bein wenig Beitrag zur finanziellen Lage der Familie leisten kann, und der Behinderung ihrer Schwester Mücke, ist Hedi auf eine gesicherte Zukunft angewiesen. Diese ist Anfang des 20. Jahrhunderts mit der Heirat und dem Eintritt in das Leben einer Hausfrau und Mutter gleichzusetzen. Damit ist Hedis Verehrer, Rüdiger, der einzig sichere Rettungsanker, der die Familie nun vor dem Ruin bewahren soll.
Weit mehr als nur Romantik
In „Eldorado KaDeWe“ dreht sich die Handlung nicht nur der Liebesgeschichte zwischen Fritzi und Hedi, auch das Thema der Behinderung wird im Kontext der Emanzipation und des langsamen Aufkommens des Nationalsozialismus beleuchtet. Mückes Down-Syndrom, welches von Rüdiger als „Entartung“ deklariert wird, ist für Hedi manchmal eine Hürde, besonders nach dem Tod ihres Vaters muss sie sich allein um Mücke kümmern.
Dennoch steht die Behinderung nicht zwischen den Schwestern. Die kleine Schwester vermittelt Hedi Vertrauen, Berührung und Intimität. Mückes Präsenz wird in den kleinen Gesten deutlich, im beruhigenden Auflegen der Hand auf die Hedis, in gemeinsamen Nächten, die sie tuschelnd und Pralinen naschend auf dem Bett verbringen. Dabei vergisst Hedi oft, dass auch Mücke als erwachsene Frau betrachtet und ernst genommen werden will.
Mücke will mehr
Hedis kleine Schwester stößt an, wird unangenehm. Mücke will mit in die Stadt, mit ins KaDeWe, mit an den Ort, von dem Hedi ihr so oft Kleinigkeiten mitbringt. Doch ganz allein kann Hedi ihre Schwester nicht lassen. Mückes Vulnerabilität wird besonders deutlich, als Hedi „Geschenke“ unter Mückes Matratze findet. Angebliche Verehrer geben Mücke als Entlohnung Alkohol oder Süßigkeiten für sexuelle Gefälligkeiten. Mit böser Vorahnung ruft Hedi eine Hebamme und es wird klar: Mücke ist schwanger. Hedi entschließt sich dazu „es wegmachen zu lassen“. Der Abort, wie ihn die Hebamme nennt, kostet nicht nur Zeit und Geld, das Hedi eigentlich nicht hat, die Abtreibung setzt Mücke auch körperlich zu.
Immer wieder wird Mückes Drang deutlich, mitzuhelfen und einen Teil zur Verbesserung der allgemeinen Situation beizutragen. So engagiert sie allein und hinter dem Rücken von Hedi Untermieter, die eigentlich Obdachlose aus der Gosse vor dem Haus sind. Auch am heimischen Abendbrottisch will Mücke die gedrückte Stimmung zwischen Rüdiger und Hedi aufheitern, indem sie den Schluckauf Rüdigers imitiert. Dieser hat für ihren Humor wenig übrig und schickt Mücke aus dem Raum.
Mücke gegen Goliath
„Ist das eigentlich erblich?“, fragt Rüdiger, als Mücke aus der Küche verschwunden ist. Für ihn ist eine „gesunde, arische“ Familie ein wichtiger Beitrag zur Gesellschaft und zudem ein weiterer Vorteil für seine Laufbahn in „der Partei“, wie er die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) Adolf Hitlers bezeichnet. Im Vergleich zu Mücke wirkt Rüdiger hart, rau, laut und gefährlich. Mücke hingegen, mit ihrer dazu gegensätzlichen feinen, ruhigen und liebevollen Art, kämpft hier einen nicht zu gewinnenden Kampf. Rüdiger ist ihr nicht nur in seiner Position als potenzielles Familienüberhaupt überlegen, auch sein schlichtes „Mann-Sein“ erlaubt es ihm in die Rolle des Richters zu schlüpfen, der Mücke in ein Heim einweisen will.
„Die Frau Doktor wird dir das schon austreiben“
Dabei ist Mücke bei weitem nicht die einzige „behinderte“ Person in der Serie. Interessanterweise werden körperliche sowie geistige Behinderungen dabei in jedem Fall Frauen zugeschrieben, wie zum Beispiel Fritzi Jandorf, deren „Krankheit“ der Homosexualität in einer Klinik mit Stromschlägen auskuriert werden soll. Ihre Eltern betonen zwar, dass sie Fritzi nicht verachten, da sie krank sei, jedoch wird die Verachtung gegenüber Fritzi besonders von Mitgliedern der neuen Partei, der NSDAP, deutlich.
Im Gegensatz dazu schlägt Männern, die beispielsweise als Kriegsveteranen körperlich behindert oder psychisch noch immer vom Grauen der Schützengräben verfolgt werden, Achtung und Respekt entgegen. So tauchen innerhalb der Serie immer wieder Kriegsverwundete auf, wie Rüdiger, Hedis Vater, Harry Jandorf oder sein Kriegskamerad, der ihn in drogengeschwängerten Nächten als Halluzination mit abgerissenen Beinen heimsucht.
Völlig losgelöst
Trotz dieser vielfältigen Darstellungen von offensichtlichen und versteckten, tatsächlichen und assoziierten Behinderungen, bildet die Figur Mückes den Mittelpunkt dieser Thematik. Sie ist der Ruhepol und kreative Kopf, welcher immer wieder für Überraschungen gut ist. Ein Beispiel hierfür ist das Öffnen von Vogelkäfigen durch Mücke im Verlauf der Serie. Dieses Fliegenlassen in den Himmel bildet ganz metaphorisch das Kernthema von „Eldorado KaDeWe“ ab: Die Freiheit, das Leben fern von Grenzen und Mauern zu beginnen.
Die Serie stellt oft genug gesellschaftliche, persönliche, körperliche oder auch mentale „Käfige“ in den Mittelpunkt, aus denen Auszubrechen für die meisten Charaktere schlichtweg unmöglich zu sein scheint. Mit dem Zugang zur Freiheit, die Mücke den Vögeln, vornehmlich Tauben, ermöglicht, ihrer Einfachheit, Originalität und Authentizität, wird die Botschaft der Serie deutlich: Den Mut, einfach auszureißen, Konventionen hinter sich zu lassen, geht auch im Kleinen. Denn es muss nicht immer der große Umsturz sein, es reicht auch nur das Öffnen einer kleinen Tür.
Nutze den Augenblick
In den letzten Atemzügen der Serie besinnen sich sogar die Hauptfiguren darauf zurück. Hedi spricht von einer Gemeinheit, die eigene Zeit, in der man sich befindet, zu beschimpfen. „Es ist die einzige Zeit, in der wir leben. Und sie gehört uns“. Den Augenblick genießen, einen Moment durch die Gitterstäbe entfliehen. Die inspirierende und schlichte Botschaft von „Eldorado KaDeWe“ drängt hinaus in die Freiheit, geführt von der sanften Hand Mückes.
Die Serie „Eldorado KaDeWe“ ist in der ARD-Mediathek verfügbar.