Die stille Stunde

Auslandsbericht aus Argentinien

Geräuschloses Einkaufen inmitten surrender Kühltheken

Martha Ehrtmann

Zwei Mal pro Woche gehen in den Märkten einer französischen Discounterlinie in Argentinien die Lichter aus. Eine Stunde wird die Beleuchtung gedimmt, die Musik ausgeschalten und alle Geräusche möglichst gedämpft. Mit der „hora silenciosa“ soll das Einkaufen – besonders für Menschen mit Autismus – angenehmer gestaltet werden.

10 Uhr, Carrefour Market, Buenos Aires. Pünktlich zur vollen Stunde setzt eine sanfte Klaviermusik ein, die einen harten Cut zur rhythmischen Radiomusik bildet. Eine freundliche Frauenstimme verkündet den Beginn der „hora silenciosa“ und erklärt den Kunden, dass in den nächsten 60 Minuten keine Musik oder Werbeanzeigen zu hören seien. „Für ein angenehmeres Einkaufserlebnis“ werden zusätzlich auch Leuchtreklamen deaktiviert und die Beleuchtung nur auf die essentiellen Lampen reduziert.

Ich bin gespannt, ist es doch meine erste stille Stunde in einem argentinischen Supermarkt. Inmitten einer Stadt, die nie still zu stehen scheint. Stille in Buenos Aires? Selten kommt es dazu. Sogar nachts ist auf den Straßen ein Hupkonzert zu hören. Und auch tagsüber tragen Autos, Motorrädern, Busse und Lkws ebenso wie Baustellen und Sirenen zum aktuellen Titel der Stadt bei: Buenos Aires zählt zu einer der lautesten Metropolen Lateinamerikas. Hier kehrt nie Stille ein. Oder?

Einkaufen, aber leise

Als die stille Stunde beginnt, stehe ich gerade vor den Kühlregalen. Hätte ich nicht von der Aktion gehört, wäre es mir wohl nicht aufgefallen, dass gerade die Musik ausgeschalten wurde. Denn die summenden Kühlaggregate übertönen so ziemlich alles im Supermarkt, ich verstehe nicht einmal das Gespräch zweier Frauen ein paar Schritte weiter. Im Rest des Supermarktes ist es dagegen sehr ruhig, die Schritte der Kunden auf dem glänzenden Linoleumboden und das Piepen der Warenscanner an den Kassen sind die einzigen auffallenden Geräusche.

Jetzt, wo ich darauf achte, fällt mir auf, wie viele Geräusche mich bei einem normalen Einkaufsgang umgeben. Auch, wenn trotzdem ein gewisser Lautstärkepegel durch Gespräche und Kassengeräusche herrscht, ist die „hora silenciosa“ dafür verantwortlich, dass Ruhe im Supermarkt einkehrt. In erster Linie eingeführt für Autisten und ihre Familien, nutzen viele Kunden die Ruhe, um ihren Wocheneinkauf zu erledigen. Trotzdem ist es nicht zu voll, ist es doch auch keine Stoßzeit.

Ein französischer Erfolg in Argentinien

Carrefour ist mit diesem Projekt zum Vorreiter im Bereich der Inklusion geworden. Jeden Dienstag von 10 bis 11 Uhr und Donnerstag von 14 bis 15 Uhr findet die Aktion zur stillen Stunde in allen Supermärkten im Land statt. Zusätzlich zur Reduzierung der Licht- und Geräuschhintergründe, können sich Kunden mit Behindertenausweis durrch Armbinden kennzeichnen lassen, um an der Kasse bevorzugt behandelt zu werden. Auch sollen speziell geschulte Mitarbeiter anwesend sein, um in der „hora silenciosa“ Hilfe beim Einkaufen und Tragen der Produkte leisten zu können.

Seit März 2023 hat die französische Supermarktlinie die Initiative zur stillen Stunde ausgeweitet und nun wird das Projekt auch in kleineren Märkten, den sogenannten „Xpress“-Geschäften, durchgeführt. Diese bestehen meistens aus einem schmalen, kleinen Verkaufsraum, sind oft an größeren Straßen angesiedelt und funktionieren fast wie besser ausgestattete Kioske.

Zurück im Großstadtlärm

Kaum ist man jedoch wieder aus dem Supermarkt heraus, schlägt die volle Wucht der argentinischen Straßenszenerie dem Kunden entgegen. Was im Supermarkt zuvor gedämpft zu hören war, ist jetzt viel präsenter.

Dem Lärm kann man in Buenos Aires nicht ganz entgehen. Und auch wenn die „hora silenciosa“ nur eine kleine Ruheinsel im lauten und einnehmenden Geräuschozean ist, ist sie doch eine unglaublich wichtige Initiative. Als Vorstoß im Bereich der Inklusion, getragen von einer der bekanntesten Supermarktlinien des Landes, erhalten Autisten in Argentinien nicht nur Aufmerksamkeit, sondern auch die Möglichkeit, einen Alltag zu haben, in dem das Einkaufen selbst erledigt werden kann.

 

Auf dem Instagram-Kanal von Carrefour wird diese Initiative mit mehreren Videos beworben.