Ein Marathon in die Realität

Review

Wie auf der Leinwand mit Stereotypen über Autisten gebrochen wird

Martha Ehrtmann

Tyson ist Autist. Und Teenager. Allen Erwartungen zum Trotz, erfüllt er nicht die typischen Merkmale eines Autisten. Denn statt Zahlen, hat Tyson das Laufen im Kopf und er hat ein großes Ziel: Einen Marathon zu gewinnen.

Autismus wird mit geistiger Hochbegabung verbunden. Mit der Präsenz von Autismus in Kino und TV entwickelt sich ein bestimmtes Bild in der gesellschaftlichen Stereotypensammlung: Seit Rain Man (1988) verknüpfen viele Menschen Autismus mit überdurchschnittlichem Talent für Zahlen oder Daten, sowie mit der Schwierigkeit für Autisten, soziale Kontakte oder die Kommunikation mit der Außenwelt zu betreiben.

Ein Genie, das allein bleibt

Oft genug wird genau dieses Stereotyp des genialen, aber abgekapselten Genies in den Medien reproduziert. Beispiele gibt es hierfür genügend: Von Filmen wie Rain Man (1988) bis hin zu Serien wie Big Bang Theory (2007) oder Sherlock (2010), Autismus ist Thema im medialen Kontext. Erfrischend anders erweist sich hingegen jedoch Tyson’s Run (2022).

Ein elterlicher Schutzwall vor der Realität

Der in Deutschland unter dem Titel Mut wächst nicht auf Bäumen auf die Leinwand gebrachte Film behandelt die Geschichte eines Teenagers namens Tyson. Er ist Autist und wird von seiner Mutter zu Hause unterrichtet, da die Eltern ihn vor Mobbing und anderen Schwierigkeiten an der regulären Schule bewahren wollen. Doch die Mutter gelangt langsam an die fachlichen Grenzen, da Tyson unbedingt Algebra lernen will, wofür aber ihre Mathekenntnisse nicht ausreichen.

Durch die Anstellung seines Vaters als Footballtrainer an der städtischen Schule hat Tyson einen Grund mehr, endlich auch eine reguläre Schule zu besuchen. Die Beziehung zu seinem Vater ist zwar liebevoll, dennoch aber distanziert und von der väterlichen Enttäuschung geprägt, dass der Sohn Autist ist und nicht sein Nachwuchsspieler sein kann. Durch die Frustration der Mutter beim Algebra-Unterricht und der Enttäuschung des Vaters kommt es immer wieder zu Streit und Spannungen im familiären Umfeld, was auch Tyson bemerkt.

Aushilfe im Footballteam – aber auf der Spielerbank

Seine Mutter fasst den Entschluss, Tyson auf die Schule zu schicken, wo auch Tysons Vater als Coach arbeitet. Dieser ist nicht darüber begeistert, dass er sich zusätzlich um seinen Sohn kümmern soll. Tyson aber will sich vor seinen Eltern, besonders vor seinem Vater, beweisen und versucht vor allem für ihm der footballspielende Sohn zu sein, den er immer schon haben wollte. Jedoch schafft er es nicht auf das Spielfeld, sondern wird lediglich zum Wasserflaschensammeln und Aufräumen der Sitzbänke abkommandiert.

Anfangs fällt Tyson der Start im ungewohnten Schulkontext schwer. Das Lernen in einer Klasse mit anderen Schülern stellt eine Umstellung dar, da Tyson am liebsten jedes Wort seiner Bedeutung nach laut definiert. Und auch der Aufbau von Beziehungen oder sogar Freundschaften zu seinen Klassenkameraden ist eine enorme Aufgabe für ihn. Besonders zu Beginn des Films werden die Stereotypen bedient. Tyson ist ein junger Mann, der scheinbar alles weiß, aber nicht abschätzen kann, ob sein Umfeld dieses Wissen tatsächlich hören möchte. So wird schon eine Stunde Biologieunterricht zur großen Herausforderung.

Aber, was heißt schon große Herausforderung? Würde es nicht vielleicht jedem Schüler so gehen, der seit dem Einschulungsalter zu Hause unterrichtet wurde und nun zum ersten Mal eine richtige Schule besucht? Anfangs bestimmt Tysons Autismus noch sehr sein Leben, das er eigentlich selbst in die Hand nehmen will. Aber dann entdeckt er durch den ehemaligen Profisportler Aklilu das Laufen für sich und will am städtischen Marathon teilnehmen.

Geht das überhaupt?

Die große Überraschung: Ein Autist, der Marathonläufer werden und laut Tyson „an einem bestimmten Tag vor den besten Läufern der Welt das Ziel erreichen“ will. Aber macht ihn das zu einem Überflieger? Der Film regt zum Nachdenken an, insbesondere auch über die eigenen, ganz persönlichen Vorstellungen über Autismus.

Ich erwische mich selbst bei diesem Gedanken: Wäre das möglich? Kann ein Autist wirklich einen Marathon laufen? Ich lasse mich nicht von den etwas schleppend präsentierten Wendungen der Geschichte sowie der dramatischen Rettungsaktion von Tyson bei einem Gewitter ablenken und erwarte eigentlich nur noch den „großen Tag“. Den Marathon.

So geht es auch Tyson. Er trainiert mit dem ruhigen Aklilu, der einmal den bekannten New York Marathon gewann, und seinen neuen Freunden aus der Schule. Und es funktioniert. Nach einigen spannenden Kilometern läuft Tyson als erster Teilnehmer „an einem bestimmten Tag vor den besten Läufern der Welt“ ins Ziel ein und gewinnt als erster Läufer den Marathon.

Über sich und die Erwartungen hinauswachsen

„The impossible is possible“, hört man vom Kommentator des lokalen Fernsehsenders. Und genau dieser Satz drückt das aus, was wohl die meisten denken: Alle Vorurteile, die mit Autismus verbunden sind, werden plötzlich hinfällig. Denn Tyson ist nicht Erster im Mathematikwettbewerb geworden oder hat eine komplizierte Formel entwickelt. Tyson nutzt das, was ihn als Mensch ausmacht: seine Zielorientierung, sein Drang nach sportlicher Bewegung und der unumstößliche Wunsch, einen Marathon zu laufen.

Und er gewinnt ihn. Ohne Zweifel, Tyson’s Run erzählt die Geschichte eines besonderen Teenagers, der sich nicht über seinen Autismus definiert, sondern vor allem aber durch seine Persönlichkeit glänzt. Auch wenn die Handlung im Filmverlauf an einigen Stellen schleppend verläuft, wird dem Zuschauer die Quintessenz spätestens bei Tysons Sieg beim großen Finale bewusst. Sein Autismus ist ein Teil von ihm, macht seine Interessen, Inspirationen und Bedürfnisse jedoch nicht allein aus.