Eine etwas andere Stadtführung

Film Review

Dergin Tokmak und der vergessene Rollstuhl

Martha Ehrtmann

Dergin Tokmak ist Tänzer. Und sitzt im Rollstuhl. Diesen tauscht der 49-Jährige auf der Bühne oder im Alltag oft genug gegen Krücken ein, die wohl zu seinem Künstlernamen geführt haben. Dabei ist „STiX“ nicht nur auf der Bühne unterwegs. In der YouTube-Serie „STiX in the City“ besucht Tokmak verschiedene Städte in Deutschland und nimmt die Zuschauer mit auf eine Sightseeingtour der anderen Art.

Es ist Sommer in München. Die Eiscafés sind ebenso voll wie die Parks und auf den grünen Wiesen tummeln sich die Bewohner der Stadt, um ein wenig Sonne zu tanken. Mittendrin: Dergin Tokmak. Im Rollstuhl und mit Krücken im Gepäck ist sein erster Halt der Englische Garten. Genauer: Die Eisbachwelle. Bekannt für die wagemutigen Surfer und die reißende Strömung, zieht sie Tag für Tag ein breites Publikum an. Während Tokmak sich mit den Surfern des Eisbachs über die ungeschriebenen Gesetze, wie das des Wer-Darf-Die-Welle-Wie-Surfen unterhält, rückt der Rollstuhl fast in den Hintergrund.

Auch beim Erkunden von anderen Teilen der Stadt, wie der Besuch im Kunstlabor 2, nimmt der Zuschauer den Rollstuhl ebenso wie die Gehhilfen nicht mehr wahr. Jedoch nicht, weil diese nicht mehr gezeigt werden, sondern weil das Nicht-Gehen-Können Tokmaks nicht den Fokus der Videoreihe darstellt. Dem Akrobaten sind die zwischenmenschlichen Gespräche mit den Künstlern, Organisatoren und Besuchern der kulturellen Angebote der Stadt München wichtig. Da er selbst als Tänzer Künstler ist, bewegt er sich zwar in seinem Metier, fungiert jedoch auch als Gast, Zuhörer und Zuschauer.

Akrobatisch Unterwegs

Tokmak legt seine eigenen Schwerpunkte. Zu Hip-Hop-Musik erkundet er nicht nur die Stadt, sondern tanzt auf seinen Krücken über eine Liegewiese mit Sonnenbadenden oder führt einen Parkour über Treppen mit seinem Rollstuhl vor. Bei “STiX” kann und muss man mit allem rechnen: Eine Slalomfahrt zwischen den Statuen in der Glyptothek oder der Techno-Rave vor dem Friedensengel sind nur zwei Szenen von vielen, die von der Aufgewecktheit und Lebendigkeit des 49-Jährigen sprechen.

Dabei geht die Tiefgründigkeit nie verloren. Trotz der scheinbar entfernten Themen, wie Streetart, Kunst oder Sport, die nicht oft mit Behinderung in Zusammenhang gebracht werden, findet Tokmak Momente und Gesprächspartner, um genau diese scheinbaren getrennten Bereiche zusammenzubringen. Besonders interessant ist hierbei das Gespräch mit Katrin Bittl, die öfters in die Statuensammlung der Glyptothek kommt, um zu zeichnen.

Tabufrage?

Der Akrobat Tokmak und die Künstlerin Bittl befinden sich vor der Skulptur eines barbarischen Fauns, eine Mischung aus Menschen und Tierwesen, der gerade seinen „Rausch ausschläft“. „Wie siehst du dich im Vergleich zu ihm?“, fragt Dergin Tokmak ganz offen und im ersten Moment bin ich schockiert. Auch Bittl sitzt im Rollstuhl, aber ich frage mich: Darf Tokmak das trotzdem? Darf man so direkt sein? Darf man so etwas fragen?

Viel Zeit über diesen (in der Gesellschaft haftenden) Tabubruch nachzudenken, hat der Zuschauer jedoch nicht. Denn im Gespräch geht es weiter. Nicht nur der Körper und die Selbstwahrnehmung bzw. -bestimmung dessen sind Thema, sondern auch die Konzepte der Schönheit, Anatomie und Nacktheit werden sowohl von Bittl als auch durch Tokmak angesprochen.

Von Marmorstatuen zu Mauerkunst

Dann wieder raus aus dem Museum, rein in das Werksviertel Mitte. Hier treffen sich namhafte Graffitikünstler aus der ganzen Welt. Viele dieser Legenden der Streetart-Szene haben sich auf dem ehemaligen Fabrikgelände bereits verewigt. Ein kontinuierlicher Wandel prägt das Kunstareal, denn Bilder bleiben nicht lange an den Wänden und werden schnell wieder von anderen Künstlern übermalt. Nicht nur die Kurzlebigkeit, auch das Terrain prägt die Kunst hier. Denn das Gestalten in luftigen Höhen gehört zum Arbeitsalltag der Graffitisprayer. „Klettern und Gepäck schleppen in einem und dann auch noch ein Bild malen“, meint Künstler LOOMIT, der Tokmak einen kleinen Rundgang gibt.

Untertrieben

„StiX in the City“ ist mehr als nur eine von vielen Stadtführungen. Es ist auch mehr als nur irgendeine Sightseeingtour. Denn Tokmak schafft es, zwischen Kultur und Kunst auch Themen wie Inklusion, Behinderung und Diversität ganz greifbar zu machen. Und zwar in den Menschen, die in diesen Städten leben, arbeiten, Kunst erfahrbar machen und jeden Tag aufs Neue gestalten. Dabei erkundet der Akrobat und Künstler nicht nur verschiedene Städt, sondern begenet den Bewohnern auf Augenhöhe und lässt so den Rollstuhl verschwiden, ohne ihn verstecken zu müssen.

 

“STiX in the City: München” und andere Folgen sind auf YouTube verfügbar oder hier aufrufbar: