Reflection
Inmitten von Spiel und Bewegung, Behinderung und Selbstfindung
Martha Ehrtmann
Theaterregisseur David Ojeda vermittelt in seinem Workshop den Teilnehmern einen anderen Blick auf eigenen Fähigkeiten und Grenzen. Dabei geht es um Barrierefreiheit, Inklusion und Autonomie im Theater.
„Ya habéis pensado una vez que todos tenemos discapacidades?”. David Ojedas Frage, ob wir uns schon einmal Gedanken über unsere eigenen Behinderungen gemacht hätten, erzeugt ein tiefes und vielsagendes Schweigen. Ojeda lächelt wissend, während wir, die Studierenden des Hauptseminars „Behinderung im spanischen und französischen Theater und Film“, uns ein wenig ertappt fühlen.
Im Workshop, so Ojeda, würden wir mehr erfahren, worüber wir uns bisher wenig Gedanken gemacht haben: Über eigene und fremde Grenzen, die uns in vielfältiger Weise schon bekannt sind oder subtil unser Verhalten beeinflussen. Über das Setzen dieser Grenzen, das Überschreiten und Akzeptieren. Über innere Einstellungen und die Auswirkung externer Einflüsse. Über uns selbst.
Workshop bedeutet Praxis
Und natürlich über Behinderung im Theater, auf und abseits der Bühne. Mit diesem Thema haben sich die Teilnehmer des Hauptseminars zum Zeitpunkt des Workshops fast ein ganzes Semester auseinandergesetzt. Der theoretische Blickwinkel sollte dabei um Erfahrung und Praxis erweitert werden. David Ojeda, der schon seit über dreißig Jahren im Bereich „Behinderung im Theater“ arbeitet, ist ausgebildeter Schauspieler und Regisseur und begleitet an diesem Abend die Gruppe Studierender auf ihrer Reise an ihre Grenzen.
„Vamos a jugar“
David Ojeda kündigt den simplen Ablaufplan für die nächsten drei Stunden an: Spielen. Innerhalb dieser Übungen, die eben auch mehr dem lockeren Spiel als ernster Übung ähneln, führt uns Ojeda die Wichtigkeit von Barrierefreiheit vor Augen. Dabei geht es nicht nur um die Erfahrung von Einschränkungen, wie dem Nicht-Sehen, was durch eine geführte Tour durch den Raum und in der Natur verdeutlicht wird, auch das Aufzeigen von Abhängigkeiten bekommt sprichwörtlich eine Bühne innerhalb des Workshops.
Wie abhängig Menschen von externen Einflüssen und Situationen sind, erfahren die Teilnehmer mithilfe eines Papierstrohhalms. Hierbei soll dieser in die Luft geworfen und wieder aufgefangen werden, bevor er zu Boden fällt. Es dauert ein wenig, bis alle ein Gefühl für den Gegenstand bekommen und das Balancieren des Strohhalms zur nächsten Aufgabe wird. Die durch andere Teilnehmer platzierten Strohhalme stellen plötzlich eine größere Herausforderung dar, die nicht nur Konzentration, sondern auch einen gewissen Grad an Ernsthaftigkeit erfordert. Nur das kleinste Lachen könnte den Strohhalm zu Boden befördern. Angespannt und auf minimale Bewegungen fokussiert, versuchen wir diese Aufgabe zu meistern.
Körperbeherrschung und Konzentration beim Balanceakt der Strohhalme
Von Ernst zur Heiterkeit
Der Einfluss von Situationen oder Gegenständen auf Verhalten und Emotion kristallisiert sich in den darauffolgenden Übungen heraus, die genau gleich zur Strohhalm-Aufgabe ablaufen: Im Umgang mit dem leichten Papiertaschentuch wechselte auch die Stimmung in der Gruppe zu einer entspannteren Atmosphäre, während das Balancieren des Ballons zu Lachen und Ausgelassenheit führte.
Erst in der letzten Station der Einheit entwickelte sich ein Bewusstsein für den Einfluss der Gegenstände auf die nötigen Bewegungen, sprich das Verhalten im Spiel mit den Gegenständen. Das zwar leichte, aber nicht gerade aerodynamische Blatt Papier fiel weitaus schneller und unkalkulierbarer in Richtung Boden und bescherte eine dynamischere, wenn auch zugleich hektischere Atmosphäre als das federleichte Taschentuch.
Einfluss und Emotion
Das Auferlegen bestimmter Regeln („Fange den Gegenstand, bevor er zu Boden fällt“) und verschiedener Rahmenbedingungen (vom Strohhalm bis zum Blatt Papier) von außen beeinflusst also nicht nur das Handeln, sondern auch die Emotionen und Gemütszustände der Teilnehmenden. Die hier herausstechende Wichtigkeit von Institutionen und den daraus resultierenden Grenzen erläuterte Ojeda im Bezug auf Inklusion, Autonomie und Assistenz.
David Ojeda (links im Bild) macht es vor: Das unbeschwerte Spiel mit dem Ballon
Mut zur Inklusion
Es sei wichtig, für Inklusion, also das Schaffen von Möglichkeiten, „dass Personen mit Behinderung ihre Potentiale frei entfalten“ können (Maaß/Rink 2020: 42), zu sorgen. Besonders im Fall der darstellenden Künste, wie dem Theater. Dabei geht es um weit mehr als nur um Infrastruktur wie rollstuhltaugliche Rampen oder eine gut lesbare Unter- bzw. Übertitelung. Es geht um Autonomie.
Autonomie, die es Personen mit Behinderung ermöglicht, selbst Entscheidungen treffen zu können und aus dem Ambiente der „Assistenz“ zu treten. Als vollwertiger Teil der Gesellschaft aufgenommen zu werden, nicht als schwächelnde Randgruppe. Sich auf Augenhöhe mit Respekt zu begegnen. Sich in die Lage anderer Personen zu versetzen. Botschaften, die wir Studierende aus diesem Workshop mitgenommen haben.
Ertapptes Lächeln
Während ich mit meinem gelben Ballon, den uns Ojeda mitgegeben hat, in der Hand nach Hause gehe, werde ich mir erst der Tragweite des Workshops bewusst. Obwohl es hauptsächlich um die „juegos“ ging, bin auch ich an meine Grenzen gestoßen und habe bemerkt: Ja, jeder ist auf die ein oder andere Weise behindert. Schmunzelnd über diesen Gedanken spaziere ich mit dem wippenden Luftballon durch die Sommernacht.
Quellen:
Maaß, Christiane /Rink, Isabel (2020), „Barrierefreiheit“. In: Hartwig, Susanne (Hg.), Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch. Berlin: Metzler, S. 39-43.