Künstliche Inklusion

Kommentar

“Mich gibt es nicht”: Die fehlende Präsenz von Behinderung in der Arbeitswelt

Martha Ehrtmann

Künstliche Intelligenz ist in aller Munde. Seit Kurzem wird diese „inteligencia artificial“ in einer argentinischen Kampagne eingesetzt, die für Recht von Menschen mit Behinderung im beruflichen Kontext kämpft.

 

“Lo que estás viendo no es real”, was du gerade siehst, ist nicht echt. Als ich diesen Satz in der U-Bahn von Buenos Aires lese, werde ich auf das dazugehörige Video aufmerksam. Und da ich eh auf die nächste Subte, wie die Bahn hier in Argentinien genannt wird, warten muss, habe ich Zeit, um auf den Bildschirm zu schauen.

Nicht echt?

Eine junge Frau, um die dreißig sitzt im Rollstuhl in einem Raum, der einem Klassenzimmer gleicht. Warum sollte dieses Bild nicht „real“ sein? Während ich noch überlege, springt die Szene schon zum nächsten Protagonisten. Einem Mann mittleren Alters, in weißer Kleidung, die aussieht, als ob er in einer Lebensmittelfabrik, vielleicht in einer Käserei, arbeiten würde. Auch er redet davon, nicht echt zu sein. Da vor ein paar Tagen Halloween gefeiert wurde, frage ich mich langsam, ob dieser Film vielleicht auf den nächsten Grusel-Blockbuster hinweisen soll. Der Satz „yo no soy real“ (mich gibt es nicht) bereitet mir schon ein bisschen flaues Gefühl im Magen.

Kein Grusel, sondern Realität

Jedoch handelt es sich bei diesem Film in der argentinischen U-Bahn-Station nicht um den Trailer eines Horrorfilms, denn es geht um eine Kampagne, die auf die Förderung von Menschen mit Behinderung im Alltag abzielt. Tatsächlich gibt es die im Video dargestellten Personen nicht wirklich. Denn diese Bilder von Menschen mit Behinderung in der Arbeitswelt wurden mithilfe von künstlicher Intelligenz erzeugt. Dies ist nötig, da 75% der Menschen mit Behinderung in Argentinien arbeitslos sind.

AHORA, ein Zusammenschluss aus verschiedenen NGO’s, ist zusammen mit dem Argentinischen Werberat für die Erstellung dieses Videos verantwortlich. Man wolle ein Zeichen in der Kultur und Politik setzen, denn Menschen mit Behinderung seien in der argentinischen Arbeitswelt nicht sichtbar. Deswegen veröffentlicht AHORA, was für Alianza Humanista de Organizaciones para la Reflexión y la Acción (also: Humanistisches Bündnis der Organisationen für Reflexion und Aktion) steht, zusammen mit dem Werbevideo fünf Grundsätze, die sich vor allem an die Arbeitgeber wenden.

Einstellen, Fördern, Begleiten

Neben diesen drei Forderungen (contratá, desarrollá, acompañá) geht es auch um das Sichtbarmachen (visibilizá) von Behinderung in der Arbeitswelt, also die Menschen so einsetzen, wie man es auch mit Menschen ohne Behinderung machen würde. Zudem richtet sich die Aktion von AHORA an die Zukunft der argentinischen Arbeitswelt: Die Kampagne will nicht nur kurzfristig die Arbeitslage der Menschen mit Behinderung verbessern, sondern auch eine langfristige Orientierung anstoßen (seguí contratando, stell weiter ein).

Universelles Recht

AHORA beruft sich dabei auf eines der Menschenrechte, welches jeder Person eine würdige Arbeit zuspricht. Laut der Organisation leben knapp 5.1140.190 Menschen mit CUD im Land. Dieses CUD, das Certificado Único de Discapacidad, stellt nicht wie in Deutschland den Grad der Behinderung dar, sondern ist ein Zertifikat, das einen Menschen als Person mit Behinderung ausweist.

Es ist ein beklemmendes Video, denn es führt der Gesellschaft drastisch vor Augen, wie ungleich die Chancen von Menschen mit Behinderung in der Arbeitswelt sind. Natürlich ist dies nicht der einzige Bereich, wo es Nachholbedarf gibt. Mit der Initiative, ein Augenmerk auf das Berufsleben zu legen, will AHORA nicht nur zum Nachdenken und Reflektieren anregen, sondern zu handfesten Aktionen und Fortschritten in der Praxis.

Künstliche Intelligenz als Inklusionshelfer?

„Ich bin nicht echt“ bleibt also im Kopf. Durch die Zweideutigkeit des Videos, das auf die künstlich erschaffenen Personen und die tatsächlich fehlende Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt anspielt, schafft es AHORA, dass trotz Stress auf dem Weg zur Arbeit, Universität oder Schule, auf die Bildschirme geschaut wird. Dabei geht es aber weniger um die Aufmerksamkeitshascherei, sondern viel mehr um die krasse Konfrontation mit der echten Realität. Welchen Einfluss die Kampagne schlussendlich auf die Situation der Menschen hier in Argentinien hat, bleibt abzuwarten, denn neben Grundsätzen und beeindruckend gestalteten Videos, soll die Realität verändert werden. Ob das mit künstlicher Intelligenz funktioniert?

 

Hier der Link zum Video (Spanisch): https://www.youtube.com/watch?v=mNNsIKb0tYQ&t=1s