Filmkritik
Über den Rollstuhl hinaus
Martha Ehrtmann
Eine neue Serie auf ARTE widmet sich dem Thema Inklusion, Sexualität und Selbstfindung einer 17-Jährigen. Dabei geht es um weit mehr als um die physische Einschränkung durch den Rollstuhl.
1,20 Meter, oder „4 Feet High“, wie der Originaltitel der Miniserie lautet, beträgt die Größe der Protagonistin Juana. Im Alltag ist sie auf die Hilfe ihrer Mitmenschen angewiesen. Gerade deswegen möchte die 17-Jährige so selbstständig wie möglich sein. Jedoch neigen Menschen aus ihrem Umfeld dazu, Juana nicht immer alles zuzutrauen. Besonders ihrer eigenen Mutter wäre es lieber, wenn Juana weniger an Weggehen, Partys und Jungs interessiert wäre.
Im Gegensatz dazu steht Juanas Wunsch, ihr Teenagerdasein auszuleben. Sie will das gleiche aufregende, spannende, prickelnde Leben erfahren, das ihre Freunde an der neuen Schule führen. In Julia und Efe, die sich aktiv für eine Verbesserung des veralteten Sexualkundeunterrichts an ihrer Schule engagieren, findet Juana Gleichgesinnte. Die drei Freunde unterstützen sich gegenseitig, die Behindertentoilette wird der neue Treffpunkt und ein Geheimversteck für das Trio.
Inklusion statt Abstellkammer
Zwischen Wischmopps und hochgestapelten Stühlen philosophieren die Freunde über konservative Lehrer, das Recht auf Sexualkunde und den Plan einer Schulbesetzung. Hier wird deutlich, wie Inklusion wirklich zu funktionieren hat: Die als behindertengerechte deklarierte Toilette, die eigentlich doch nur eine Abstellkammer ist, wird zur Diskussionsplattform und zum Gemeinschaftsraum. Es geht um Miteinander, um Zusammenhalt, um Raum für das Wir.
Juana braucht diese Unterstützung und den Zuspruch ihrer Freunde. Denn sie hat einen großen Plan: Sie will ihr erstes Mal erleben. So unabhängig und selbstständig wie nur irgendwie möglich. Dies führt oft zu Situationen, die für Juana zum ganz normalen Alltag gehören, die Zuschauer im ersten Augenblick überraschen und zum Nachdenken anregen.
Echte Liebe
Juanas Geschichte liefert einen realistischen und echten Eindruck von einem Leben, das durch den Rollstuhl bestimmt ist. Selbst bevor sich Juana und ihre Liebhaber ihren Gefühlen hingeben können, muss die 17-jährige erklären, wie sie aus dem Rollstuhl gehoben und am besten auf das Bett gelegt werden sollte.
Im Verlauf der sechsteiligen Miniserie bestimmen die einzelnen Folgen von circa 15 Minuten den Erzählfluss. Sie lassen sich wie ein roter Faden aneinanderreihen, ein roter Faden, der das Leben vieler Teenager beschreibt. Hier kommen verschiedene Themen zum Tragen: In angekommen geht es um Juanas neues Leben, was nicht nur die Schule, sondern auch ihren Freundeskreis und ihre Freizeit betrifft.
Außerdem wird die Miniserie durch Ereignisse wie erste Dates, Liebschaften und auch eine mögliche Schwangerschaft geprägt. Im Hinblick auf feministische Bewegungen in Lateinamerika findet auch ein Bezug zu Bestrebungen statt, die den legalen Schwangerschaftsabbruch und eine Entkriminalisierung fordern.
Die Schauspielerin und ihre Rolle
„Ich an deiner Stelle könnte das nicht“, „Du bist so ein Vorbild“. Sätze, die nicht nur Juana in „1 Meter 20“ immer wieder hört. Auch die Schauspielerin Marisol Agostina Irigoyen, die Juana in der Serie verkörpert, fühlt sich immer wieder konfrontiert mit Aussagen, die für sie zu einer abgeschwächten Form der Diskriminierung gehören.
Mitleid ≠ Empatie
Manchmal ginge es nicht ohne dieses Mitleid, das man von anderen erfährt, um Zugang zu Bildung, Gesundheit und dem Arbeitsmarkt zu haben, so Irigoyen auf ihrem Instagram-Kanal . Jedoch wünscht sie sich mehr Empathie, mehr Verständnis, ohne Beteuerungen „wie toll du dein Leben meisterst, trotz deiner Behinderung“.
Irigoyen legt den Fokus klar auf die Botschaft, die auch die Serie vermitteln will: Behinderung gehört dazu. Sie ist nicht ein abgetrennter Teil, sie ist verwoben mit all den Menschen, Geschichten, ihren Gefühlen, ihren Leben. Leidenschaft, Glückstaumel, Passion und Energie – das alles macht Menschen aus. Und ist in jedem von uns zu finden. Selbst in 1,20 Metern.
„1 Meter 20“, verfügbar vom 07.12.2021 bis 17.08.2024 in der ARTE-Mediathek.