Persephone, Hades und „geistige“ Behinderung

Reflexion

Persephone, Hades und „geistige“ Behinderung

Viktoria Geldner

In Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern (CH/DE 2015; Regie: Stina Werenfels) wird die Sexualität einer Frau mit „geistiger“ Behinderung ambivalent dargestellt und folgt zugleich einem Schema der griechischen Mythologie. Der Film ist eine Erfahrung.

Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern (im Folgenden Dora) ist nicht Teil des EEE-Korpus, weil es sich bei der Schauspielerin der Hauptperson mit „geistiger“ Behinderung, Dora, Victoria Schulz, um eine Schauspielerin ohne („geistige“) Behinderung handelt. Nichtsdestotrotz liefert der Film eine interessante, eindrucksvolle, nachklingende Darstellung „geistiger“ Behinderung, die viele Fragen aufwirft.

Synopse 

Nach Jahren der Behandlung setzt Mutter Kristin sämtliche ruhigstellenden Medikamente ihrer Tochter mit „geistiger“ Behinderung, Dora, ab. Dora findet Gefallen an einem zwielichtigen Mann, den sie auf dem Markt trifft und folgt diesem in eine U-Bahn-Toilette, woraufhin es zu gewaltvollem Geschlechtsverkehr kommt. Doras Eltern sind entsetzt, Dora wird im Krankenhaus behandelt. Dora trifft Peter, den düsteren Mann, jedoch ein zweites Mal und es kommt zum einvernehmlichen Sex. Mithilfe eines Trackers konfrontiert Kristin Peter, doch Dora will weiterhin Sex mit Peter haben und weigert sich, die Pille oder ein anderes Verhütungsmittel zu nehmen. Während Kristin und Doras Vater sich vergeblich ein zweites Kind wünschen, wird Dora schwanger.

Persephone und Hades

In der griechischen Mythologie verliebt sich der Gott der Unterwelt, Hades, in die Tochter der Fruchtbarkeitsgöttin Demeter, Kore. Da Kore seinem Werben nicht folgt, überlistet er sie mit einem Trick, ihm in die Unterwelt zu folgen und kürt sie dort zur Königin, weshalb aus Kore Persephone wird. In der Unterwelt isst Persephone Kerne eines Granatapfels und ist ab diesem Zeitpunkt an die Unterwelt gefesselt. Demeter, zerstört durch den Verlust, bringt Unfruchtbarkeit über die Welt: Ernteausfälle, Hunger und Tod bedrohen die Menschheit. Der Olymp schreitet ein und Hades, Persephone und Demeter schließen einen Pakt: Persephone darf zu ihrer Mutter zurückkehren, muss allerdings vier Monate pro Jahr in der Unterwelt verbringen. Während dieser vier Monate ist die Erde nicht fruchtbar, weil Demeter trauert; ein Ablauf, mit dem sich die alten Griechen die Jahreszeiten erklärt haben.

Die Hades-Persephone-Konstellation ist in den Künsten weit verbreitet. Auch Dora ist auf Grundlage des Mythos strukturiert: Dora als Persephone folgt dem passenderweise düster gekleideten Peter, Hades, in seine Welt. Während Dora vor Verlangen und Fruchtbarkeit förmlich überquillt – Peter arbeitet passenderweise als Schauwerbegestalter für ein Fruchtbarkeitsmittel – ist Mutter Kristin, Demeter, im konkreten wie im übertragenen Sinne unfruchtbar: eine Fruchtbarkeitsbehandlung schlägt fehl, Kristin bekommt ihre Periode.

Hier endet die Hades-Persephone-Demeter-Konstellation, denn die Erfahrung verwandelt die Demeter-Figur von einer besorgten, liebenden Mutter in eine überforderte, rachsüchtige Furie, die eifersüchtig auf die Schwangerschaft/ Fruchtbarkeit ihrer Tochter ist. Kristin nimmt Doras Zimmer auseinander und verfrachtet Dora in eine Wohngruppe von Menschen mit „geistiger“ Behinderung. Im Anschluss betritt Kristin ihre eigene Unterwelt und nimmt im Drogenrausch an einer Sexorgie teil, wo ihre Aufmerksamkeit erneut von einer Schwangeren gefesselt wird. Dora, die zu diesem Zeitpunkt hochschwanger am Flughafen auf Peter wartet, um mit diesem für ihre Hochzeit nach Las Vegas zu fliegen, wird schließlich auch von diesem verlassen: sie wartet vergeblich. Gleichzeitig hat sie ausdrücklich darum gebeten, dass ihre Mutter während der Geburt nicht anwesend ist.

Über Granatäpfel und Symbolismus

Ein Granatapfel – ein bedeutungsgeladenes Symbol in den Künsten – ist aus eben jenem Grund ein wiederkehrendes und ebenso symbolträchtiges Element des Filmes: der Granatapfel steht in vielen Kulturen für Leben, Fruchtbarkeit, Begehren und weibliche Unabhängigkeit (sowie Macht, Blut und Tod). Das Fruchtbarkeitsmotiv stammt von den einzelnen Kernen (Samen) der Frucht, die sich in der harten Schale befinden. In der griechischen Mythologie kommt dem Granatapfel, wie erwähnt, im Mythos von Persephone und Hades eine tragende Rolle zuteil.

Diese wird in Dora mehrfach in den Mittelpunkt gerückt und verdeutlicht die Personenkonstellation der griechischen Mythologie, welcher der Film folgt: verschwommene Close-Ups von Granatapfelkernen untermalen visuell den Vorspann, einen Granatapfel hält Dora auf dem Titelbild der DVD in der Hand, mit einem Granatapfel, den sie Peter schenken will, folgt sie ihm in die U-Bahn. Der Granatapfel ist ebenfalls der Grund, warum sie Peter ein zweites Mal folgt: sie hat ihm den Granatapfel geschenkt, allerdings nicht wie ‚abgemacht‘ ein Eis im Gegenzug erhalten („Lutsch mal den Ständer. Du bekommst auch’n Eis“). Der Granatapfel als Symbol der Fruchtbarkeit/ Sinnlichkeit/ Lust ist Dreh-und-Angelpunkt des Films und soll bildlich verdeutlichen, dass Doras sexuelles Erwachen der Mittelpunkt des Werks ist.

Sinnlichkeit und sexuelles Erwachen  

Dora konterkariert das Klischee von Menschen mit „geistiger“ Behinderung als kindlich asexuell: Dora folgt ihrem Trieb und lebt ihre Sexualität aus – nach der ersten Begegnung mit Peter, im Folgenden näher erläutert. Zum Entsetzen ihrer Eltern führt Dora die „Beziehung“ mit Peter auch nach einer ersten verhinderten Schwangerschaft fort, welcher, so die Beschreibung in der DVD, von „ihrer befreiten Sinnlichkeit angetan ist“ (DVD). Sie führen eine sexuelle Beziehung, die, wie bei der Beratungsstelle für sexuelle Gewalt verdeutlicht wird, einvernehmlich ist: Dora hat „Nein“ gesagt, als ihr etwas nicht gefiel und Peter hat dies respektiert.

Sexuelle Gewalt

Obwohl Dora Peter später aus freien Stücken für Sex aufsucht, kann was in der U-Bahn-Toilette geschieht, schwer als etwas anderes als Vergewaltigung bezeichnet werden: Dora ist zwar aufgeklärt, allerdings unverständig bezüglich dessen, was Peter mit ihr vorhat. Als Peter die Tür der Behindertentoilette verschlossen hat, benutzt Dora vor seinen Augen die Toilette. Als Peter vor ihr stehen bleibt, reagiert sie nicht auf Peters Aufforderung, ihn für ein Eis oral zu befriedigen. Gleichermaßen ist Dora offensichtlich verwirrt, als Peter sie umdreht, gewaltsam gegen Wand und Boden presst, und ohne jedes Vorspiel a tergo penetriert. Diese brutale ‚Entjungferung‘ kann schwerlich als etwas anderes als Gewalt betrachtet werden, bestätigt von Dora, die unverständig dreinblickt, bei jedem Stoß zusammenzuckt, offensichtlich Schmerzen leidet, und deren Blick mit Tränen in den Augen dem Granatapfel folgt, der langsam über den Boden kullert.

Dora trägt von der Vergewaltigung, die von ihren Eltern sowie der behandelnden Ärztin als genau solche erachtet wird, Vaginalläsionen sowie ein Hämatom an der Hüfte davon. Nichtsdestotrotz ist Doras erster Satz in der Klinik, dass Sex schön ist, womit die Dimension der Ambivalenz, die Doras Sexualität im Film untermauert, einsetzt: es bleibt unklar, ob Dora die Vergewaltigung als solche betrachtet – oder betrachten kann. Dass Gewalt Initiation zum Sex sein soll, bleibt für die Zuschauerschaft schwer zu bewerten.

Ambivalente Rahmenbedingungen

Im Anschluss sucht Dora Peter freiwillig auf und hat einvernehmlichen Sex mit ihm, was ein Bild einer Frau mit „geistiger“ Behinderung liefert, die ihre Bedürfnisse frei auslebt: als Peter bei ihrer nächsten Begegnung sieht, dass sie eine Verletzung (das Hämatom) davongetragen hat, befiehlt er ihr, in sein Auto zu steigen. Auch später sucht Dora ihn in seiner Wohnung auf und sie haben Sex.

Unabhängig von Einverständnis oder nicht ist offensichtlich, dass Peter Dora wie ein Spielzeug und nicht mehr behandelt: er schenkt Dora Essen (Eiscreme und Chips) oder Dinge, für die er keine Verwendung hat, wie eine Creme, die er mit „Bah“ kommentiert, bevor er sie an Dora weiterreicht. Dora freut sich über die Dinge und möchte, als sie das zweite Mal schwanger ist, eine Familie mit Peter gründen: als sie ihn fragt, ob sie für ihre Hochzeit nach Las Vegas fliegen, antwortet Peter sarkastisch „Klar“, was Dora nicht versteht. Ähnliches geschieht, als sie ihm sagt, dass sie einen Ring braucht: Peter gibt Dora einen Schlüsselring und sie freut sich darüber. Zu einem späteren Moment ist Peter im Begriff, einen anderen Mann mit Dora Sex haben zu lassen. Obwohl Peter schließlich eingreift, als Dora sich wehrt und sichtlich erschüttert „Nein“ sagt, wird deutlich, dass sie und er eine andere Auffassung ihres Verhältnisses zueinander haben. Dies wird spätestens deutlich, als Dora am Flughafen vergeblich auf Peter wartet.

Zuletzt geschieht in Dora ebenfalls, was in „Sexuelle Gewalt und „geistige“ Behinderung: Unmögliche Täterschaft in Be My Baby“ ausführlich analysiert wurde: in einer Szene versteht auch Dora kein „Nein“. Peter sagt „Hör mal auf jetzt, ich will nicht“, „Ey“ und „Hör auf“, während er sie wegschiebt, bis Dora widerwillig schmollend von ihm ablässt. Als sie sich daraufhin den Vaginalring entfernt, den sie als Verhütungsmittel tragen soll, initiiert Peter doch Sex, wobei deutlich wird, dass der Kick für ihn aus Grenzüberschreitung und nicht aus der tatsächlichen Intimität mit Dora besteht.

Fazit 

Dora ist ein außergewöhnlicher Film, der reich prächtigen Farben sowie Symbolismus ist, und mit vielen Tabu(-brüchen) spielt: allein deshalb ist es eine lohnende Erfahrung, den Film zu sehen. Das Werk thematisiert eine große Anzahl schwieriger Fragen und führt der Zuschauerschaft, auch bei mehrmaligem Ansehen, anschaulich die sich wandelnden Grenzen im eigenen Kopf vor Augen. Die aufgeworfenen Fragen können nicht beantwortet werden und klingen auch noch lange nach Betrachtung nach.

 

Werenfels, Stina, Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern. DVD; Alamode Film, 2015.