What doesn’t kill me…

Reflection

What doesn’t kill me… – Überkompensation körperlicher Behinderung in digitalen Spielen

Jakob Kelsch

Behinderung wird in digitalen Spielen sehr stiefmütterlich behandelt. Insbesondere bei Spielercharakteren mit körperlicher Behinderung stößt man hier dennoch auf ein wiederkehrendes Muster: eine deutliche Überkompensation.

Man kann beileibe nicht sagen, dass sich digitale Spiele der Auseinandersetzung mit komplexen Sachverhalten erwehren. Insbesondere auf historischem Terrain finden sich viele Titel, die ein Potenzial zu einer ebenso ernsthaften wie sensiblen spielerischen Auseinandersetzung beweisen. Dabei gibt es diejenigen Titel, die entsprechende Sachverhalte eher en passant einfließen lassen oder sie paradigmatisch anhand einzelner Figuren aufarbeiten. Beispielsweise kann hier der Ego-Shooter Call of Duty World War II (2017) genannt werden, der die Spielenden – neben klassisch-repetitivem Shooter-Gameplay – mit der Verfolgung und Ermordung von Juden konfrontiert. Zudem wird die Erkundung eines Kriegsgefangenenlagers, das ikonografisch an ein Konzentrationslager erinnert, ermöglicht. Andere Spiele legen sowohl spielmechanisch als auch narrativ den Fokus auf die verhandelten Thematiken: Im hervorragenden deutschen Spiel Through the Darkest of Times (2020) muss eine Widerstandsgruppe gegen das NS-Regime organisiert werden, was spielmechanisch intensiv verarbeitet wird. Das autobiographisch geprägte Spiel That Dragon, Cancer (2016) lässt die Spielenden entscheidende Stationen im Leben von Eltern miterleben, deren Kind mit unheilbarem Krebs diagnostiziert wurde.

Trotz zahlreicher Narrationen über Ausgrenzung, Gruppe, Gemeinschaft und auch Krankheit wird die Thematik Behinderung indes weitgehend ausgespart. Es gibt wenige Spiele, die Behinderung zum zentralen Bestandteil ihrer Narration und des Gameplays machen: Ein steuerbarer Protagonist in Last Day of June (2017) verwendet einen Rollstuhl. Die PCs (also „Player Characters“) in A Blind Legend (2015) und The Vale: Shadow of the Crown (2021) sind blind. Man steuert sie anhand auditiver Eindrücke. Hier handelt es sich allerdings um vergleichsweise wenig populäre Nischenprodukte. Es lohnt also ein Blick auf diejenigen Figuren mit Behinderung, die potenziell eine große Zahl an Spielenden erreichen. Ganz bewusst nicht in den Bereich der Behinderung zähle ich hier Figuren mit psychischen Erkrankungen, insbesondere diejenigen, die in der stereotypen Rolle des wahnsinnigen Schurken in Erscheinung treten, und/oder das Horrorgenre bevölkern.

Die Power der Prothese

Neben denjenigen PCs und (vor allem) NPCs („Non Player Characters“), die durch ihre Behinderungen tatsächlich eingeschränkt sind, existiert hier ein ganz spezieller, wiederkehrender Typus der Figur mit körperlicher Behinderung: Jene, für die eine Behinderung nicht etwa eine Einschränkung bedeutet, sondern das genaue Gegenteil.

  • Der Figur Sir Hammerlock aus Teilen der Borderlands-Reihe fehlen auf einer Körperseite ein Arm und ein Bein. Beide Glieder wurden indes durch hochtechnisierte Prothesen ersetzt, die ihm absolute Bewegungsfreiheit ermöglichen.
  • Sekiro, PC in Sekiro: Shadows Die Twice (2019), verliert einen Arm. Dieser wird jedoch durch eine erweiter- und verbesserbare Prothese ersetzt, die den Krieger effektiver und beweglicher macht als zuvor.
  • Der PC Doomfist in Overwatch (2016) trägt ebenfalls eine massive Armprothese, die ihm durchschlagende Kampfmanöver ermöglicht. Im selben Spiel finden sich diverse weitere Figuren mit Prothesen, die deren Fähigkeiten verbessern. Generell ist der „bionische Arm“ ein derart beliebtes Motiv im digitalen Spiel, dass es ganze Listen und Videos dazu gibt. Häufig sind diese Arme jedoch keine Prothesen im eigentlichen Sinne, sondern eine bewusste körperliche Modifikation.
  • Der PC in Baldur’s Gate 3 (2023) kann bei zwei Gelegenheiten ein Auge verlieren. In beiden Fällen wird es durch eine magische Prothese ersetzt, die eine besondere Fähigkeit mit sich bringt. Generell ist Einäugigkeit meist nicht mehr als ein kosmetisches Detail, das das Tragen einer draufgängerischen Augenklappe ermöglicht, wie unter anderem bei der Figur Demoman aus Team Fortress 2 (2007), Undyne aus Undertale (2015) oder Big Boss aus Teilen der Metal Gear-Reihe.
  • J. Blazkowicz PC im Shooter Wolfenstein II: The New Colossus (2017) ist nach einer von unzähligen Verletzungen so gut wie gelähmt und muss einen Rollstuhl nutzen. Nicht nur sind für die Figur einzelne Stufen und schmale Durchgänge kein Problem, er kann auch weiterhin eine Maschinenpistole bedienen. Später ermöglicht ihm eine hochentwickelte Rüstung volle Beweglichkeit und darüberhinausgehende Kräfte.

Unter diesen Beispielen lässt sich bereits ein Muster feststellen: Es handelt sich größtenteils um PC, also spielbare Figuren, die im Zentrum der Handlung stehen. All diese Figuren verlieren durch Gewalteinwirkung oder einen Unfall einen Körperteil oder werden in anderer Weise nachhaltig verletzt. Ginge man nach der Logik unserer Realität, wären diese Figuren auf einen Rollstuhl angewiesen, müssten mühsam lernen mit einer Prothese zurechtzukommen und könnten – in der Regel – nicht die körperliche Funktionalität wiedererlangen, die sie vor dem Zwischenfall hatten. Die genannten Figuren jedoch kehren – vielleicht nach einer kurzen Phase der Frustration – nicht nur zu alter, sondern zu einer neuen „Stärke“ zurück, die weit über ihre vorherigen Fähigkeiten hinausgeht. Ihre Behinderung wird nicht nur kompensiert, sondern bei weitem überkompensiert. Aus einer Einschränkung wird eine Superkraft.

Level-Up und Superhelden-Narrativ

Bei genauerer Reflektion ist diese Darstellungsweise weder auf spielmechanischer noch auf narrativer Ebene überraschend. Bezüglich des Gameplays ist eindeutig: Es liegt in der Natur der Sache, dass Spielende eine Figur steuern wollen, die sukzessive stärker wird. Sie möchten Erfahrungspunkte ausgeben, neue Fähigkeiten erwerben, ihre Ausrüstung verbessern oder einfach ein Level aufsteigen. Es macht das Spiel zwischenzeitlich interessant, fügt einen Aspekt hinzu, wenn der PC kurzzeitig schwächer wird: Figuren können zwischenzeitlich eine bestimmte Fähigkeit nicht nutzen, werden verletzt oder verlieren – ein besonders beliebtes Motiv – ihre komplette Ausrüstung und müssen sich mit minimalen Mitteln aus der Gefangenschaft befreien. Der Verlust eines Körperteils ist in dieser Logik nicht viel mehr als ein etwas nachhaltigerer Verlust von Ausrüstung. Nach diesem Moment der Irritation muss es spielerisch wieder bergaufgehen. Die alten oder besser noch, die neuen und verbesserten Fähigkeiten, müssen den Spielenden zur Verfügung stehen, gewissermaßen als Belohnung dafür, die Verletzung der Figur und unter Umständen einen mühsamen Spielabschnitt bewältigen zu müssen. Der Reiz der neu erlangten Fähigkeiten wird dementsprechend nur höher, die Spielfreude steigert sich.

Die Narration dieser Spiele lässt rasch an Superhelden mit Behinderung denken, die diese aber durch besondere Fähigkeiten mehr als bewältigen: Prof. X aus den X-Men-Comics und Filmen ist Rollstuhlfahrer, kompensiert dies aber durch seine enormen telepathischen Kräfte. Der Comic-Held Daredevil erblindet als Kind bei einem Unfall, hat aber auch extrem geschärfte Sinne und ist ein überlegener Nahkämpfer. Der ehemals geniale Chirurg Dr. Strange erleidet durch einen Autounfall einen Nervenschaden, nur um später ein überaus mächtiger Magier zu werden. Ähnlich wie bei den oben genannten Spielfiguren handelt es sich um Individuen, die große körperliche und mentale Stärke beweisen und trotz eines schweren Schicksalsschlages über sich hinauswachsen. Sie sind der Inbegriff des Überlegenen und Heldenhaften. Findet dieser Schicksalsschlag – wie der Verlust einer Gliedmaße oder die Querschnittslähmung – während der erzählten Geschichte statt, gibt dies den Rezipierenden die Möglichkeit, dieses Über-sich-selbst-Hinauswachsen, diesen heldenhaften Aufstieg, mitzuerleben oder gar zu erspielen. Das Spiel wird nicht nur mechanisch, sondern auch inhaltlich spannender.

Fazit

Die hier diskutierten Beispiele der Überkompensation stellen einen Ausschnitt der spielerischen Darstellung von Behinderung dar – nichtsdestoweniger einen augenfälligen Ausschnitt. An dieser Stelle lässt sich nun diskutieren, ob es sich hier überhaupt um eine Darstellung von Behinderung handelt oder um einen bekannten narrativen und spielmechanischen Kniff, gepaart mit Fantasy- und Science-Fiction-Einflüssen. Die Behinderung ist hier nichts mehr, was behindert, sie gibt vielmehr Anlass zu einer außerordentlichen Befähigung.

Es wäre nun möglich, sich dieser Strategie von einem moralischen Standpunkt aus zu nähern und insofern in die Kritik zu nehmen, da es sich um eine weder realistische noch tatsächlich inklusive Darstellung handelt. Schließlich werden hier nicht Figuren gezeigt, die trotz und mit ihrer Behinderung reüssieren, sondern diese entgegen aller Chancen ausräumen und anschließend erneut handlungsfähig sind. Dies hieße jedoch über das gut gemeinte Ziel hinauszuschießen. Die genannten Spiele bewegen sich ausnahmslos im Bereich der Science-Fiction oder des Fantastischen oder kokettieren zumindest mit diesen Genres. Es liegt in deren Natur, den Figuren, mittels Magie oder Technik, Auswege aus einer Situation zu ermöglichen, die in unserer Realität nicht möglich sind. Dazu zählt auch eine Überwindung dessen, was eigentlich unüberwindbar ist. Eine breitere und realistischere Darstellung von Behinderung im digitalen Spiel wäre wünschenswert. Dies bedeutet jedoch nicht, dass es diese Spiele anstatt der bisherigen, sondern zusätzlich zu selbigen geben sollte.