Wozu?

Eine schöne Stelle aus dem Roman Mongo von Harald Darer (2022).

Ein Schüler aus einer Gruppenführung gesteht in einer Gedenkstätte für die Opfer des Nationalsozialismus, dass er einen schwerstbehinderten Bruder hat, der nur im Bett liegen kann und rund um die Uhr gepflegt werden muss. Danach entwickelt sich folgende Szene:

„Alle Schulkolleginnen und Kollegen waren überrascht. Sie dürften davon nichts gewusst haben. Die Mädchen umarmten ihn, ein paar Burschen klopften ihm aufmunternd auf die Schultern. […] Dann sage ein Schulkollege: Aber wozu ist er denn dann wirklich da, wenn er nichts anderes tun kann, als herumliegen und in die Luft schauen?

Keiner sagte etwas, alle waren baff. Selbst der, der die Frage gestellt hatte, schien verblüfft über die eigene Frage. Er lief rot an, schaute in den Boden hinein und kratz[t]e sich hinter dem Ohr. Es schien ja auch eine logische Frage zu sein, dachte ich. Wer hat sich diese Frage denn noch nicht gestellt, beziehungsweise die Frage: Ist das ein Leben? […] Gute Frage, sagte der andere, mein Bruder ist dazu da, damit wir ihn lieb haben können und damit er uns lieb haben kann!, sagte er.

Eine einfache Antwort auf eine komplizierte Frage, dachte ich. Das gibt es selten.“

(Harald Darer, Mongo, Wien: Picus Verlag, S. 185, 187)