Kontingenz und Moral

Konferenzbericht

Kontingenz und Moral

Martha Ehrtmann

Moral, die Vorstellung vom richtigen Verhalten in der Gesellschaft, ist ein Bestandteil jeder Kultur. Wie finden diese Konzepte, besonders in Verbindung mit gegenläufigen Ideen, Umsetzung im Theater? Ein virtueller Kongress nähert sich dieser Frage.

Für Aristoteles bedeutete der Begriff „Kontingenz“ so viel wie alles, was weder notwendig noch unmöglich ist. Kontingenz verweist deshalb auf eine fundamentale epistemologische Gegebenheit: Alles, was Menschen in ihrem täglichen Leben erkennen, ist von Perspektiven und Referenzsystemen abhängig.

Ungewissheit, aber auch neue Perspektiven

Erkenntnis ist somit ein selbstreferentieller Prozess. Die Anerkennung von Kontingenz bringt Ungewissheit und Angst mit sich, eröffnet aber auch neue Handlungsspielräume. Für die Ethik und eine allgemeine Moral bedeutet sie zunächst Legitimationsprobleme. Denn Kontingenz kann Beliebigkeit und Gleichgültigkeit Tür und Tor öffnen, weil sie jeder Begründung (und Anwendung) von Moral den Boden entzieht.

Zugleich wertet sie aber auch präskriptive Ethiken als notwendige Voraussetzung für moralisches Handeln auf. Außerdem ist Kontingenz die Bedingung für eine Anerkennung von Diversität. Der Ansatz des Kongresses ist die Frage, wie fiktionale Texte ethische Normen vermitteln, ohne Kontingenz auszublenden. Zu diesen Texten gehören Literatur, Theater und audiovisuelle Künste, also nicht-pragmatische Texte.

Zum Thema „Literatur und Ethik“ folgte nach den in Passau veranstalteten internationalen Kongressen nunmehr eine Tagung zum Thema „Contingencia y moral. El extranjero visto a través de la ficción“. Die vorangegangenen Veranstaltungen behandelten moralische Dilemmata in fiktionalen Darstellungen („Ser y deber ser“, 2015) und Diversität bezüglich moralischer Fragen („Diversidad cultural – literaria – ¿moral?“, 2018)

Gegenläufige Konzepte?

Schon bei den beiden Vorgängerkongressen war „Kontingenz und Moral“ implizit angeklungen: Die Konfrontation mit Diversität bedeutet Kontingenzerfahrungen, ebenso wie die prinzipielle Unentscheidbarkeit von Dilemmata. In ethischer Hinsicht geht es in allen Fällen um das Problem des Relativismus.

“Contingencia y moral” (07.05.2021).

Dieses wird im 20. und 21. Jahrhundert umso deutlicher, als die Zunahme von Möglichkeiten der Lebensgestaltung und die immer wichtigere Rolle reflexiven Wissens Kontingenzerfahrungen vermehren. Die den vorherigen Tagungen analoge Forschungsfrage lautet: Wie gehen fiktionale Texte, die Kontingenz behandeln, mit moralischer (Un-)Verbindlichkeit um?

Fremdheit und Fremdsein

Für eine bessere Vergleichbarkeit der Einzelstudien fand eine Fokussierung auf die Thematik der Fremdheitserfahrung statt. Dabei wurde besondere Fremdheitserfahrung infolge eines Raumwechsels in den Blickwinkel genommen, sei dieser freiwillig (Migration) oder unfreiwillig (Exil).

Der spanische Ausdruck el extranjero wird dabei in seiner doppelten Bedeutung, ‚der Fremde‘ und ‚die Fremde‘, gefasst und impliziert das Nicht-Planbare, Nicht-Berechenbare in der Konfrontation mit fremden Kulturen als Kontingenzerfahrung. Dies ist nicht nur als Erfahrung im Sinne eines Erlebnisses zu bewerten, sondern gegebenenfalls auch als Kontingenzbewältigung.

Zentrale Fragen

Zwei grundlegende Zielsetzungen wurden im Laufe der Tagung verfolgt: Das Stellen der Frage nach Moral in literarischen Texten, die Kontingenz zum Gegenstand haben. Und zudem das Darstellen der Beantwortung (oder auch des Offenlassens) der Frage, wie mit Kontingenz umgegangen wird, anhand eines konkreten Themas (der/die Fremde).

“Contingencia y moral” (09.05.2021).

Dem Kongress steht die übergreifende Frage voran: Wie wird moralische Verantwortung in kontingenten Textwelten inszeniert? Wie wird in einer kontingenten Welt Konsens oder Dissens durch fiktionale Texte formuliert? Vom 7. Bis 9. Mai 2021 wurde diesen Fragen während eines virtuellen Kongresses Bedeutung beigemessen.

Auf der Website des Lehrstuhls finden Sie Programm und Reader der Veranstaltung.