Romanfiguren mit Locked-In-Syndrom

Blick ins Buch

“Eingesperrt” im eigenen Körper. Figuren mit Locked-In-Syndrom in französischen Romanen

Daniela Kuschel

In der französischen Literatur gibt es einige Figuren, die am Locked-In-Syndrom erkrankt sind. Wie werden diese Figuren in den Erzählungen beschrieben und was wird über sie und mit ihrer Hilfe erzählt?

Haben Sie schon einmal vom Locked-In-Syndrom gehört? Laut Manual der Diagnostik und Therapie (https://www.msdmanuals.com) handelt es sich um eine fast vollständige Lähmung, die in sehr seltenen Fällen zum Beispiel nach einem Schlaganfall auftreten kann. Die Betroffenen können nichts bewegen außer den Augen; allerdings sind das Bewusstsein und die geistigen Fähigkeiten nicht beeinträchtigt. Der Name des Syndroms beschreibt also den Zustand des „Eingesperrt-Seins“ im eigenen Körper. Das Bewusstsein ist voll aktiv, während der Körper nicht mehr gesteuert werden kann. Dieser extreme und extrem seltene Fall von Ganzkörperlähmung kommt auch in einigen bekannten französischen Romanen vor.

Noirtier de Villefort aus Le comte de Monte-Cristo (Alexandre Dumas, 1845)

Die Figur Noirtier de Villefort aus dem weltbekannten Roman Le comte de Monte-Cristo (dt. Der Graf von Monte Christo) von Alexandre Dumas gilt als die erste Romanfigur mit Locked-In-Syndrom. Sie wird folgendermaßen beschrieben:

„Unbeweglich wie ein Leichnam saß der Greis in seinem Stuhl, doch bewies der lebhafte und intelligente Blick, … dass sein Geist noch vollkommen frisch war … Schon konnte er nicht mehr durch eine Geste zum Ausdruck bringen, was er wünschte, schon war ihm die Sprache versagt. Er befahl mit den Augen, kurz er war ein Leichnam mit lebendigen Augen …“.

Das Locked-In-Syndrom war 1845 medizinisch noch unbekannt

Die von Dumas beschriebenen Symptome (absolute Bewegungslosigkeit, nicht mehr Sprechen können, lebendige Augen, frischer Geist) entsprechen genau dem Krankheitsbild des Locked-In-Syndroms. Dieses war aber noch gar nicht medizinisch bekannt, als Dumas seinen Roman 1845 verfasste. Allerdings ist das 19. Jh. die Zeit, in der die moderne Medizin entsteht und so interessierten sich viele Autor*innen für den Körper und seine Funktionen. Häufig wollten sie auch verstehen, wie Körper und Geist interagieren.

Noirtier de Villefort als stiller Wächter über die Gerechtigkeit?

In Erzählungen sind die Bestandteile (Figuren, Orte, Handlungen usw.) selten zufällig und so hat auch die Figur Villefort mit ihrem Locked-In-Syndrom eine Funktion. In Der Graf von Monte Christo geht es vor allem um Rache für erlittenes Unrecht und darum, alte Schulden zu begleichen. Um Teile dieser Geschichte zu entwickeln, ist die Figur wichtig. Der ältere Mann ist zwar sprach- und bewegungslos, aber ganz und gar nicht passiv oder machtlos. Er agiert im Stillen und dabei völlig unbehelligt, wohl weil man ihm nichts zutraut. So verhilft er in einem Teil der Handlung des Romans zur Gerechtigkeit.

Madame Raquin aus Thérèse Raquin (Émile Zola, 1867)

In Émile Zolas Roman Thérèse Raquin treffen wir auf die Schwiegermutter der Hauptfigur, Madame Raquin. Sie hat einen Schlaganfall und wird in Folge immer stärker gelähmt, bis ihr Zustand dem Locked-In-Syndrom entspricht. Er wird ganz ähnlich wie im vorherigen Roman beschrieben:

„Da begriffen sie, dass sie nur noch eine Leiche vor sich hatten, eine halbwegs lebende Leiche, die sie sehen und hören, aber nicht mit ihnen sprechen konnte.“

Madame Raquin als Mahnung des Verbrechens

Thérèse Raquin handelt vom Mord, den Thérèse und ihr Liebhaber, Laurent, am Ehemann von Thérèse und Sohn von Madame Raquin verüben. Es wird erzählt, wie die Liebhaber immer mehr an der Tatsache verzweifeln, dass sie so ein Verbrechen begangen haben. In einem unachtsamen Moment vergessen die streitenden Täter*innen, dass Madame Raquin anwesend ist. So erfährt sie von dem Mord. Sie will Rache und treibt die Thérèse und Laurent in den Selbstmord. Denn sie ist wie eine stille Mahnung an das Verbrechen, was die Gewissensbisse der Täter*innen unerträglich macht.

Weitere Fälle von Verbrechen und Geständnis

Während es für die Handlung in Thérèse Raquin wichtig ist, den Unterschied zwischen dem körperlichen Zustand der Figur und ihrer geistigen Aktivität genau zu beschreiben, löst das Locked-In-Syndrom in anderen Romanen nur eine bestimmte Handlung aus. Gleich in mehreren Geschichten gelingt es einer gelähmten Figur zur Aufklärung eines Verbrechens beizutragen. Beispiele hierfür sind André Cornelis (1886) von Paul Bourget oder L’affaire Lerouge (1866) sowie La vie infernale (1870) von Émile Gaboriau. Hier schaffen es die schon mehrere Tage oder Wochen vollständig gelähmten Figuren, eine wichtige Information zu vermitteln. Das geschieht meistens in einem letzten Aufbäumen vor dem Tod. Der Clou liegt wohl darin, dass keiner der übrigen Figuren – weder Opfer noch Täter – erwartet, dass die gelähmte Figur kommuniziert. Das führt dann zu einer überraschenden Wendung in der Geschichte.

Der gelähmte Körper ein Mittel zum Zweck

In solchen Erzählungen ist der gelähmte Körper ein Mittel zum Zweck, ein Medium, um eine bestimmte Botschaft zu vermitteln oder eine Handlung auszulösen. Wird Behinderung und Beeinträchtigung häufiger in einer solchen Verbindung dargestellt, ist das problematisch. Denn was wir lesen, kann auf unsere Vorstellungen außerhalb der Literatur einwirken. Krankheiten, Behinderungen und Beeinträchtigungen sagen in der Realität nichts über die moralischen Eigenschaften eines Menschen aus!

Die eigene Erfahrung beschreiben: Le scaphandre et le papillon (Jean-Dominique Bauby, 1997)

Ein letztes Beispiel aus den 1990ern ist die autobiographische Erzählung Le scaphandre et le papillon (dt. Schmetterling und Taucherglocke) von Jean-Dominique Bauby. Hierin beschreibt der Autor seine Erkrankung, die medizinisch mittlerweile als Locked-In-Syndrom beschrieben wurde. Der ehemalige Pariser Chefredakteur des Frauenmagazins Elle erzählt, wie er die Situation erlebt.

Blinzelnd seine Erlebnisse kommunizieren

Bauby erlernt ein Code-System, das über Blinzeln funktioniert, so dass er mit anderen kommunizieren kann. Mit Hilfe dieses Kommunikationssystems diktiert er blinzelnd seinen Text. Vor jeder Sitzung, mit einer Assistentin, die alles notiert, hat er das, was er „schreiben“ will, Satz für Satz auswendig gelernt. In seinen Gedanken kann Bauby kreativ sein und sich alle möglichen Dinge vorstellen, die er mit seinem Körper nicht mehr machen und erleben kann. Dabei sind Erinnerungen sehr wichtig.

Gegen bestehende Vorurteile

Indem Bauby den Text „schreibt“ und so mit uns Leser*innen kommuniziert, kann er zeigen, dass die Vorstellung, dass eine körperliche mit einer geistigen Beeinträchtigung einhergeht, schlichtweg falsch ist. Leider beeinflusst dieser „gedankliche Kurzschluss“ immer noch Vorstellungen über körperliche Behinderung. Auch andersherum gedacht, kann so eine Denkweise bedeuten, dass Menschen mit geistiger Beeinträchtigung körperliche Aktivitäten und Funktionen, z.B. sexuelles Interesse, einfach abgesprochen werden.

Was ist so interessant am Locked-In-Syndrom für die Literatur?

Auf die generelle Frage, was am Locked-In-Syndrom und auch an anderen Lähmungserscheinungen für die Literatur so interessant ist, könnte man Folgendes antworten: Im Locked-In-Syndrom drückt sich eine existenzielle Angst davor aus, dass der Körper nicht mehr seinen Dienst tut. Als unser Ort in der Welt ist er die Schnittstelle zwischen dem Inneren und dem Äußeren. Sie ist wichtig, um unabhängig nach seinem eigenen Willen handeln zu können. Die Literatur fragt nach dem ‚Was-wäre-wenn‘ und kann die Leser*innen so mit extremen Körpererfahrungen und Ängsten konfrontieren. Sie kann aber auch aufklären und für die Körpererfahrungen und Ängste der Anderen sensibilisieren.