Tics, Tourette und Therapie in Lappland

Film Review

Auf eine Reise in die Wildnis und zu sich selbst

Martha Ehrtmann

Drei junge Menschen erforschen ihr Tourette und begeben sich im Rahmen des Experiments zur neuartigen meta-kognitiven Verhaltenstherapie auf eine Reise in die Wildnis Finnlands. Dort rücken die stigmatisierten Tics in den Hintergrund und ein neuer Lebensabschnitt beginnt für das Trio.

Eine Gruppe von Menschen sitzt in einem kleinen Holzverschlag, der eigentlich mehr ein Zelt mit klapprigen Holzbrettern ist, um ein Feuer herum. Der Boden ist mit Moos ausgelegt und obwohl es ein ordentliches Lagerfeuer ist, scheint es die Gruppe doch ein wenig zu frieren. Jeder Einzelne hängt seinen Gedanken nach, es ist still, bis auf das Knistern der Holzscheite. Jäh wird diese Stille vom Stöhnen und Keuchen eines jungen Mannes unterbrochen.

Von Stress zu Tics, von Tics zu Stress

Leo hat Tourette. Das, so sagt er selbst, schon mit dem Aufstehen am Morgen beginnen würde. Besonders in Stressmomenten, wo Leo weiß, dass viele Menschen in seiner Nähe die Ausprägung des Tourette mitbekommen könnten, sind die Tics da. Je mehr er versucht sie zu unterdrücken und in die Ecke zu drängen, desto mehr bekommt Leo Zuckungen und wirft mit meist unverständlichen Wörtern um sich. Und desto mehr starren die Menschen um ihn herum – entweder auf ihn oder peinlich berührt zum Boden. Eine Spirale aus Stress, Schmerzen und Tics.

Dem Rest der Gruppe ist Leos Verhalten nicht unbekannt, auch nicht unangenehm. Man sitzt weiter schweigend vor den prasselnden Holzscheiten, bis sich Lauri Ukkola, Renntierzüchter und Schamane aus Lappland, erhebt und zum rhythmischen Trommeln seiner Begleiterin murmelnd versucht, zum Wald um ihn herum Kontakt aufzunehmen. Für Leo, Marika und Daniel, die vom Neurologen Prof. Dr. Alexander Münchau und dem Psychiater Dr. Daniel Alvarez-Fischer begleitet werden, ist es nicht die erste fremde Erfahrung, die sie in Lappland machen. Die Reisegruppe aus Deutschland hat sich auf den Weg in den Norden begeben, um neue Therapieansätze für die Diagnose „Tourette“ zu finden. Dabei geht es nicht um den Kampf gegen das Tourette, sondern vielmehr um das Leben mit ihm.

Die Hektik zu Hause lassen

Die Einsamkeit der Inari-Region im Norden Finnlands ist für die Drei eine gewaltige Änderung im Gegensatz zum hektischen Leben in Deutschland. Dieses „Feuer, das meine Glieder hochwächst und dazu führt, dass ich meine Muskeln anspannen muss“ ist der Grund, warum Marika versucht, ihr Tourette zu kontrollieren. Dabei stehen für sie immer unzählige Fragen im Raum: Wo bin ich gerade? Kann ich es rauslassen, ohne dass sich andere Menschen dabei unwohl fühlen? Wann bin ich in meiner Wohnung, damit ich die Tür schließen kann?

Leo auf Erkundungstour in den Wäldern Finnlands

Hier in der unberührten Natur, in der Stille, ist das kein Thema. Die Tics können kommen und gehen. Ohne den Einflussfaktor „Mensch“ schrumpft der Einfluss des Tourettes, es rückt in den Hintergrund. Und obwohl die Tics bei allen drei immer wieder zum Vorschein kommen, scheint die Ruhe einen besonderen Einfluss auf das Trio zu haben. Vielleicht ist es aber auch die Übereinkunft, dass es okay ist zu „ticcen“, dass niemand verurteilt oder bewertet wird. Dass die gesellschaftlichen Stigmata am deutschen Festland geblieben sind

Bevor die Leo, Daniel und Marika sich aber auf die Reise machen, besuchen sie Ärzte in Deutschland und Frankreich, welche mit unterschiedlichen Ansätzen arbeiten. Dieser Ärztemarathon ist den Dreien gut bekannt, so haben sie doch alle schon  eine lange Odyssee von Beratungsgesprächen, Arztbesuchen und Wechsel der Behandlungsformen hinter sich. Verloren im Therapie-Dschungel und durch unterschiedliche Behandlungen verunsichert und enttäuscht, wollen Marika, Daniel und Leo einen Neuanfang in Bezug auf ihr Leben mit Tourette beginnen.

Kontrolle mit Elektroden im Kopf?

Marika hat trotz der gesellschaftlich bedingten Unsicherheiten ihr Tourette-Syndrom „gut unter Kontrolle“, wie sie selbst sagt. Das liegt an der bisherigen Therapieform mithilfe von Medikamenten und des Versuchs „ticcenden“ Menschen die Kontrolle über ihr Tourette durch Verdrängung zu geben. Andere mögliche Formen einer Therapie sind der Einsatz von Tiefen-Hirn-Stimulationen oder die medikamentöse Behandlung mit Cannabis bzw. dem Wirkstoff THC. Die Stimulation des Gehirns durch Elektroden ist umstritten. Wie Daniel im Gespräch mit einem anderen Neurologen erwähnt, ist eine Persönlichkeitsveränderung während dieser Therapieform nicht selten. Dies wird auch von der Seite des Arztes nicht abgestritten, man könne ja einfach die Elektroden „aus dem Kopf nehmen und die Stimulation ausschalten“.

Die Suche nach dem bewussten Leben

Zusammen mit Prof. Dr. Münchau und Dr. Alvarez-Fischer macht sich das Trio also nun auf in das Abenteuer Lappland. Das Experiment der neuen Therapieform soll auch künftig anderen Menschen helfen, mit ihrem Tourette zu leben, und rückt von der propagierten medikamentösen Behandlungsform ab. Die meta-kognitive Therapie, beruht auf der bewussten Lenkung der eigenen Aufmerksamkeit. Abseits von Menschenmassen, Druck, Stress und Medikamenten wird mit dieser Form der Verhaltenstherapie das Tourette nicht verbannt, sondern nur in den Hintergrund des Bewusstseins der Teilnehmer gerückt. Dabei lernen sich Daniel, Leo und Marika nicht nur als Gruppe besser kennen, sie erfahren auch viel über sich selbst.

Eine Aufmerksamkeitsübung verlagert den Fokus von Marika (links) und Daniel (2.v. links). Prof. Dr. Alexander Münchau (rechts) beobachtet die zwei bei der Übung, die von Psychiater Dr. Alvarez-Fischer (2.v. rechts) geleitet wird.

…und sich selbst begegnen

Marika beschreibt sich nach dem Übersetzen mit der Fähre und der Autofahrt auf engem Raum als „Tourette-Hasser“. Eigentlich will sie tolerant mit Leo und Daniel sein, da sie es doch am besten wissen müsse, wie sich Tourette anfühlt. Der jungen Frau wird es aber zu viel, sie erkennt sich in den krampfartigen Bewegungen Leos und den lauten Ausrufen Daniels wieder, für die sie sich so lange selbst gehasst hat. Den beiden anderen gibt die Gruppe ein Sicherheitsgefühl, hier müssen sie keine Angst vor externen Urteilen und Zuschreibungen haben. Marika hingegen will einfach weg. Will so wenig wie möglich mit dem Tourette zu tun haben.

Auch dafür steht die meta-kognitive Therapie: Ein weitreichendes Bewusstsein schaffen. Über die Menschen um mich herum, genauso wie über mcih selbst. Aber auch in Einzelgesprächen mit Münchau oder den Aufmerksamkeitsübungen mit Alvarez-Fischer lernen Marika, Leo und Daniel nicht mehr gegen die Tics anzukämpfen und den Fokus ihres Denkens und Handelns nicht mehr nur auf das Tourette zu legen. Für Marika ist diese Reise ein Spiegel ihrer Vergangenheit. Eigentlich will sie sich diesem entziehen, mit der Zeit erkennt sie jedoch das Potential dieser Einblicke in ihr persönliches „Was-bisher-geschah“.

Die Weiten der Inari-Region

Im Verlauf der Reise weitet sich die Ruhe und Besonnenheit Lapplands auf das Trio aus. Individuelle Ziele werden festgesteckt, das Bewusstsein geschärft und auf Erkundungstouren im Wald und durch Felsformationen eigene mentale und körperliche Grenzen hinterfragt. Als Erinnerung bekommt die Reisegruppe Fellstücke an einer Lederkette von Renntierzüchter Lauri Ukkola. Es soll sie an die Zeit in der wilden Landschaft Lapplands und die damit verbundenen Erfahrungen und Erkenntnisse erinnern. Das Zu-Sich-Finden scheint sich wie eine schützende Decke über Marika, Leo und Daniel zu legen und bildet die Grundlage für ein Leben mit Tourette, den Tics und einem neuen Bewusstsein für sich selbst.

Der Dokumentarfilm „Tics – Mit Tourette nach Lappland“ erschien im Juni 2022 in den deutschen Kinos.

Bildrechte: Bild: Rainville & Oswald GbR, Salzgeber Film (https://salzgeber.de/tics)